Schattengefährte
Turmmauern ließen keinen ihrer Schreie nach außen dringen.
Die Zeit kroch wie eine Schnecke dahin, und Alina starb fast vor Ungewissheit. Was war mit Fandur geschehen? Weshalb betrat niemand diese Turmkammer? War das Leben auf der Burg völlig erloschen? Macha musste doch längst gemerkt haben, dass sie nicht in ihrem Gemach war – man suchte doch gewiss nach ihr. Aber natürlich – sie war als Räbin in den Kerker geschlüpft – wer konnte wissen, dass sie nun als Königstochter hier unten saß?
Es ging gegen Mittag, da endlich irrte der gelbliche Schein einer Laterne über die viereckige Kerkeröffnung, und zwei Gesichter beugten sich hinab.
»Macha! Fergus!«
»Ich hatte es geahnt!«, stöhnte die alte Magd. »Öffnet das Gitter, ihr Faulpelze. Rasch, das Seil. Sie muss ja halb verhungert sein.«
Man machte sich an dem Gitter zu schaffen, Hammerschläge trafen auf das Eisen, so dass kleine Fünkchen sprühten, Fergus fluchte und schalt – hatte man den Schlüssel nicht gefunden? Knirschend hob sich das eiserne Gitter, klappte zur Seite, und man ließ ein Seil zu ihr hinab, das am unteren Ende zu einer Schlinge geknüpft war.
Als sie wohlbehalten oben im Turmraum stand, wichen die drei Wächter scheu vor ihr zurück, denn sie konnten sich nicht erklären, wie die Königstochter in das verschlossene Verlies geraten war. Fergus keuchte noch ein wenig, denn er hatte sich beim Hinaufziehen des Seiles gewaltig angestrengt, damit Alina nicht etwa mit Kopf oder Schulter gegen die Mauersteine stieß. Jetzt strahlte er vor Glück und Zufriedenheit, trat einen Schritt zurück und verbeugte sich vor ihr. Macha hingegen schüttelte trotz aller Erleichterung den Kopf und schalt, dass Alina leichtfertig gehandelt habe.
»Wirst du denn niemals klug, Mädchen? Was auch immer heute Nacht geschehen ist – dein listiger Rabe ist ohne dich davongeflogen. Er hat sich in Sicherheit gebracht und zugelassen, dass Nessa, diese verdammte Hexe, dich in den Kerker gesperrt hat. Oh, wie Recht Etain doch hatte …«
Alina hörte gar nicht mehr zu, denn sie verspürte namenlose Erleichterung. Fandur war nicht tot, er war mit den anderen davongeflogen. Freiwillig war er seiner Herrin gewiss nicht gefolgt, auf dem Boden lagen ausgerissene Rabenfedern, ein Beweis, dass er sich gewehrt hatte. Ihr Herz krampfte sich zusammen – die verfluchte Göttin hatte ihn mit Gewalt verschleppt – was würde sie ihm antun? Ihn quälen? Ihn töten?
Macha ließ ihr keine Zeit, in Betrübnis zu versinken. Sie zupfte an Alinas Gewand herum, rieb einige Flecken heraus und redete ständig auf sie ein.
»Jetzt wird endlich geschehen, was deine Mutter immer gewünscht hat. Der Weg ist frei, Alina. Vergiss deinen Rabenkrieger, denn es erwartet dich eine große Aufgabe …«
»Hör auf, an mir herumzuzupfen«, murrte Alina unfreundlich. »Für Nemed brauchst du mich nicht herzurichten – ich werde ihn doch nicht heiraten!«
»Wer redet von Nemed? Ich sagte, dass der Wille deiner Mutter sich erfüllen wird. Etains Tochter wird das Hügelland beherrschen, sie allein, ohne einen Mann an ihrer Seite!«
»Was redest du da?«
»Es ist wahr, Herrin«, sagte Fergus, und seine Augen blitzten vor Befriedigung. »Nemed, der sich zum Herrscher des Hügellandes hatte aufschwingen wollen, ist tot. Nessa hat befohlen, ihn in der Halle aufzubahren, doch nur wenige tragen Trauer um ihn.«
Alina glaubte zunächst, sie hätte nicht richtig gehört. Doch Macha nickte eifrig zu diesen Worten, und auch die drei Wächter schauten unsicher drein. Sie wussten nicht, ob es klüger war, Kummer oder Erleichterung zur Schau zu stellen.
»Was ist geschehen?«
»Es muss der Rabenkrieger gewesen sein, der sich an Nemed gerächt hat«, schwatzte Fergus. »Im ersten Morgengrauen erhoben sich Schwärme von Raben aus dem Turm – es waren ganz sicher die Genossen deines Rabenkriegers, die er herbeigerufen hat. Nemed war außer sich vor Wut, vom Fenster aus schoss er mit Pfeil und Bogen nach den schwarzen Vögeln – da drehte sich einer seiner Pfeile um und traf ihn selbst ins Herz. Nemed stürzte in den Hof hinab, doch sein Körper verfing sich in den Ästen der Linde und blieb dort hängen, bis wir ihn herunternahmen.«
Alina schauderte es bei diesem Bericht. Fandur war gewiss nicht derjenige, der den Pfeil im Flug umdrehte, dazu war er selbst viel zu sehr in Bedrängnis gewesen. Solch ein Kunststück war nur der Morrigan zuzutrauen – die Rabengöttin ließ sich gewiss nicht
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