Schattengefährte
– Nessa schien schreckliche Ängste zu leiden, wenn sie sich sogar von einem Teil ihrer Schätze trennen wollte.
»Sie kann ihre Truhen behalten«, gab sie Asa zurück. »Reden will ich gern mit ihr, ich bin neugierig, was sie mir zu sagen hat.«
Nessa hatte sich in ein kleines Gemach zurückgezogen, das mit Kisten und Kasten vollgestopft war, zusammengerollte Wandbehänge und Gewänder lagen aufgestapelt am Boden, in Wandnischen blinkten silberne Kannen mit schlanken, schön gebogenen Henkeln. Die Luft war stickig, denn das Fenster war verhängt, und die Hängelampen verbreiteten harzigen Duft. Nessa thronte auf einer gewölbten Truhe, über die man einen Teppich gelegt hatte, nur zwei ihrer Frauen waren ihr geblieben, ältliche Tanten, die aus ihrer Familie stammten und von ihr abhängig waren. Eine von ihnen humpelte eilig herbei, als Alina eintrat, und rückte ihr einen geschnitzten Hocker zurecht.
»Du bist nun also die Herrin geworden«, empfing sie Nessa. »Durch welche Zauberkraft dir dies gelungen ist, das kann ich nur ahnen. Aber ich habe vom ersten Tag an vermutet, dass du nur darauf aus warst, mich und meinen Bruder zu vernichten.«
»Du täuschst dich, Nessa!«, gab Alina verärgert zurück. »Weder ich noch der Rabenkrieger sind verantwortlich für Nemeds Tod.«
Sie hätte Mitleid mit ihrer Stiefmutter haben können, denn Nessa war bleich und ihre Augen rot entzündet – der Tod ihres Bruders musste ein schwerer Schlag für sie gewesen sein. Ihre Bosheit hatte sie deshalb jedoch nicht verloren – Alina wusste, dass sie gut daran tat, dieser Frau zu misstrauen.
»Mag sein, dass ich mich täusche«, sagte Nessa düster und zog das Tuch, das an ihrer Haube befestigt war, ein wenig nach vorn. Schämte sie sich, der Stieftochter ihr verweintes Gesicht zu zeigen? Oder wollte sie sich verbergen, damit Alina nicht die Hinterlist von ihren Zügen ablesen konnte?
»Ich bin dir in all den Jahren wie eine Mutter gewesen«, fuhr Nessa fort. »Du bist frei und glücklich hier aufgewachsen, ich habe für dich gesorgt und dich niemals fühlen lassen, dass du nicht mein eigenes Kind bist. Ich bitte dich inständig, das nicht zu vergessen, Alina!«
Der letzte Satz musste Nessa ungeheuer schwer von den Lippen gegangen sein, denn sie stockte und tat einen schnaufenden Atemzug. Die beiden alten Frauen zu ihren Seiten nickten dazu und blickten Alina an wie zwei Hunde, die um Futter betteln. Alina spürte, wie ihr Magen sich vor Ekel umdrehte – dabei hatte sie kaum etwas gegessen.
»Dein Vater wird wieder gesund werden …«
»Was nicht dein Verdienst ist«, fuhr Alina dazwischen.
Nessa zuckte zusammen, und die beiden ältlichen Frauen wurden noch um einiges blässer.
»Ich bin keine Giftmischerin«, zischte Nessa. »Ich habe deinem Vater Tränke gegeben, die ihm aus seiner Traurigkeit helfen und sein Gemüt besänftigen sollte. Du ahnst ja nicht, welchen Stoß du ihm versetzt hast, als du mit dem Rabenkrieger davonrittest.«
Welch eine perfide Person! Jetzt versuchte sie ihr, Alina, die Schuld in die Schuhe zu schieben.
»Der König selbst wird darüber berichten, wenn er wieder gesund ist«, gab Alina kühl zurück. »Dann werden wir auch erfahren, wohin er reiten wollte, bevor du und Nemed ihn daran hinderten, die Burg zu verlassen.«
Nessa beeilte sich, umständlich zu erklären, dass der König krank gewesen sei, und nicht hätte reiten können, man habe ihn stützen müssen, damit er heil seine Gemächer erreichte. Doch in ihren Augen flackerte die Angst, denn sie spürte, dass Alina ihr nicht glaubte.
»Noch bin ich die Königin«, prahlte sie und richtete den Rücken gerade. »Dein Vater weiß, dass ich ihm stets eine treue Ehefrau gewesen bin – hätte er mir sonst die Herrschaft über die Burg anvertraut, wenn er ausritt oder krank war?«
Daran war nicht zu rütteln. Aber sicher war auch, dass Nessa ihre Macht auf dem Unglück einer anderen aufgebaut hatte.
»Wer hat meinem Vater eingeflüstert, Etain sei ihm untreu gewesen? Wer hat ihm geraten, die Burg mit Ebereschen zu umgeben? Wer hat den Wandteppich meiner Mutter vernichten wollen? «
»Was für infame Lügen!«, ereiferte sich Nessa und schlug die Hände in gespieltem Entsetzen zusammen. »Nichts davon ist wahr, das schwöre ich dir!«
Alina hatte keine Lust, sich auf ein Streitgespräch einzulassen, bei dem nichts Gutes herauskommen konnte, deshalb gab sie keine Antwort. Doch gerade ihr Schweigen versetzte Nessa in Panik, denn sie
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