Schattengefährte
noch eine Menge aus alter Zeit wissen.
»Das ist vorbei, und ich mag nicht mehr daran denken, Mädchen. Es sind keine schönen Dinge, die da zutage kommen würden, sie könnten mir in den Nächten den Schlaf rauben.«
Alina seufzte. Wie merkwürdig, dass niemand sich an diese Zeit erinnern wollte. Ihr Vater hatte nie davon gesprochen, was genau damals geschehen war, nur von dem großartigen Sieg über die gefährlichen Feinde war immer wieder die Rede gewesen.
»Hast du einmal einen Drachen gesehen, Macha?«
Die alte Magd fuhr heftig zusammen, ein Leuchter aus Messing, den sie auf eine Truhe hatte stellen wollen, polterte auf den Dielenboden.
»Wer hat dir solche Sachen erzählt?«, flüsterte sie.
»Ein alter Kämpfer meines Vaters. Er sagte, die Drachen hätten an der Seite der Feinde gekämpft, aber sie wurden alle getötet.«
Macha zog das Tuch ein wenig weiter ins Gesicht hinein und bückte sich, um den Leuchter aufzuheben.
»Hat er mich etwa angelogen?«, beharrte Alina.
Es dauerte ein Weilchen, bis Macha die Antwort gab und es schien Alina, als kämpfe ihre Magd mit sich.
»Er hat die Wahrheit gesagt. Aber es ist besser, wenn du darüber Schweigen bewahrst.«
»Weshalb?«
Jetzt hob Macha den Kopf, um zu ihrer jungen Herrin aufzusehen. Ihr Gesicht war blass, und die Falten, die sonst kaum sichtbar waren, gruben sich tief in Stirn und Wangen ein. In ihren kleinen blauen Augen lag ein Ausdruck, den Alina nicht zu deuten wusste. Es konnte Schmerz sein, aber auch Zorn.
»Weil dein Vater es so will, Alina«, sagte sie in hartem Ton. »Und du solltest ihm gehorchen.«
Sie wandte sich rasch ab und humpelte aus dem Gemach, sie zog fest die Pforte hinter sich zu, und man hörte ihre eiligen Schritte auf dem Gang. Alina blieb beleidigt zurück, denn es war lange her, dass ihre Magd in solchem Ton mit ihr geredet hatte. War Macha sonst nicht immer auf ihrer Seite gewesen? Hatte sie nicht von den heimlichen Ausflügen gewusst, aber ihren Schützling niemals verraten? Wieso tat sie jetzt auf einmal so streng?
Ärgerlich fuhr sie mit dem Finger durch das Waschwasser in der Schüssel. Die silbrigen, trockenen Salbeiblättchen schwammen wie kleine Boote auf einem runden Teich und verbreiteten einen intensiven Duft. Alina mochte den Geruch nicht besonders, er war stechend und erinnerte sie an die bitteren Tränke, die Macha ihr kochte, wenn sie krank war. Missmutig hob sie die Schale auf und trug sie in den Flur hinaus, dann löste sie die Verriegelung der Glasfenster und öffnete beide Flügel so weit wie möglich.
Es war immer noch dunstig draußen, kein Vergleich mit dem großartigen Sommertag, den sie gestern auf ihrem Ausflug genossen hatte. Grau verhangen war die Ferne, so als berührten die tiefen Wolken dort die Erde. Im Süden, wo die Sonne jetzt hinter dem Nebel stehen musste, war nur ein schwacher, milchiger Schein zu sehen. Im Norden stieg eine dunkle Schicht zwischen den trüben, weißlichen Wolken auf, löste sich zu feinem Rauch und wehte vorüber.
Sie stützte die Ellenbogen auf das Fenstersims und legte das Kinn in die gewölbten Hände. Weshalb gab es so viele Verbote? Sie durfte nicht singen, nicht allein ausreiten, sie durfte nicht von den Drachen reden, und ihre Fragen wollte niemand beantworten. Der Vater schwieg, Macha nörgelte sie an und lief davon, und Ogyn – der log ihr etwas vor. Ärgerlich blies sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Unten im Hof trug eine Magd die Küchenabfälle zum Tor, um sie in den Burggraben zu kippen. Die Raben auf dem Tordach erhoben sich krächzend und folgten der Magd, gleich würden sie sich um die fauligen Gemüseschalen und abgenagten Knochen streiten, und jeder würde sich mit seiner Beute einen Platz in den Ebereschen suchen.
Einer der hungrigen schwarzen Burschen schien jedoch wenig Lust zu haben, sich an dem Festschmaus zu beteiligen, denn er blieb als Einziger auf dem Dach des Torgebäudes sitzen. Er hielt den Kopf zur Seite gewendet, doch Alina spürte seinen neugierigen Rabenblick. Ob es der gleiche war? Die Entfernung war viel zu groß, sie konnte nicht sehen, ob er eine weiße Feder neben dem Auge hatte. Sie löste die Zöpfchen, die Macha ihr am Hinterkopf zusammengesteckt hatte, denn es ziepte und stach sie. Befreit schüttelte sie das lange Haar und stellte fest, dass ihr schwarzer Beobachter auf seinem Sitz hin und hertrippelte. Gerade so, als wolle er gleich abfliegen.
»Nur zu, Gierschlund«, murmelte sie belustigt. »Hol dir deinen
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