Schattengefährte
…
Entschlossen wischte sie die Tränen mit dem langen Ärmel aus ihrem Gesicht und strich einige nassgeheulte Haarsträhnen zurück. Sie würde sich das nicht gefallen lassen! Sie hatte ein Recht darauf, mit ihrem Vater zu sprechen. Jetzt, da es beständig donnerte und blitzte, würde er sowieso nicht schlafen können.
Dreimal versuchte sie, zum König vorzudringen. Umsonst. Königin Nessa saß wie ein Wachhund in seinem Gemach und ließ niemanden zu ihm hinein, auch die Tochter des Königs wurde abgewiesen. Schließlich gab Alina auf – morgen war ein neuer Tag, gewiss würde die Sonne scheinen, die Burg füllte sich mit buntem Leben, die Hügel leuchteten in saftigem Grün. Da würde sich auch die Stimmung ihres Vaters bessern, und Nessa würde ihre Macht über ihn verlieren.
Der Regen hatte aufgehört, doch der Donner grollte weiter am Himmel, schwächer zwar und in längeren Abständen, wie ein Hofhund, der noch ein paarmal kläfft, obgleich die Aufregung längst vorüber ist. Auch der gelbliche Brand, der in der Ferne zu ahnen war, wollte nicht verschwinden und färbte die einfallende Dämmerung mit diffusem, ockerfarbigem Schein.
Als Alina sich endlich entschied, zu Bett zu gehen, war die Luft in ihrem Gemach so schwül, dass sie beschloss, die Fenster offen zu lassen. Macha kleidete ihre junge Herrin aus bis auf das dünne Hemd, stellte die Laterne neben das Lager und wünschte ihr eine gute Nacht.
»Sei stark, Mädchen«, murmelte sie. »Es kommen schwere Zeiten, aber du trägst das Licht in dir, das dich leiten wird.«
Sehr trostreich war das nicht, denn es hörte sich so an, als glaube Macha nicht daran, dass der König seine Verfügung ändern würde. Alina zog die Decke hoch und drehte sich auf die Seite, ohne Macha eine Antwort zu geben, und die alte Magd humpelte aus dem Gemach. Draußen im Flur hörte man es rascheln – Macha legte sich den Strohsack zurecht, um vor dem Zimmer ihrer Herrin zu schlafen.
Die Luft lag schwer und klebrig im Raum, bald musste Alina die Decke von sich werfen, denn es war einfach zu heiß. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, ohne einschlafen zu können und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Ab und zu kläffte einer der Hunde, es rauschte in den Zweigen der Ebereschen, auch hörte man das leise Huschen der Mäuse im Flur und ihre zarten, piepsenden Stimmen. Erst spät, als die Mitte der Nacht weit überschritten war, hatte auch der Donner sich endgültig gelegt, und ein Geräusch wie ein starker Wind fuhr über den Burghof. Es waren die Raben, die schweigsam und mit kräftigen Flügelschlägen von ihrer Reise zurückkehrten, um sich wieder auf dem Dach des Torgebäudes niederzulassen.
Jetzt endlich nahm ein erlösender Schlaf Alina in seine Arme, warf ein blasses Tuch über die quälenden Gedanken, so dass sie matt und durchsichtig wurden, sich miteinander verwirrten und als harmlose Schatten davonschwebten. Tief sank sie in weiche Dämmerung, ein Wolkenflaum zarter Träume hüllte sie ein, und die Winde trieben sie über das weite Land des Vergessens.
War es ein Geräusch, das sie aus der Tiefe des Schlafs emporzog? Sie erwachte nicht, schlug auch nicht die Augen auf, dennoch glaubte sie, die geöffneten Fenster in ihrem Gemach zu sehen. Die helle Mondsichel stand am Himmel, und ihr Licht ließ die steinernen Bögen blass hervortreten. Deutlich war die dunkle Form des Raben zu erkennen, der auf dem Fenstersims saß und in ihr Zimmer starrte.
Er bewegte sich ein Stück vorwärts, sie hörte seine Krallen auf dem Fenstersims scharren, dann hackte er respektlos nach dem Bernsteinamulett, das vom Fensterbogen herabhing, flatterte empor und landete auf dem Deckel einer ihrer Truhen. Es war merkwürdig, denn sie empfand weder Ärger noch Sorge, denn dies alles war ja nur ein Traumbild. Auch dass sich die Gestalt des schwarzen Vogels nun ausdehnte, erschien ihr nicht beängstigend, sondern ganz selbstverständlich, denn Träume gehorchten niemals den Gesetzen der Wirklichkeit. Der Rabe wuchs in der mondbeschienenen Dämmerung zur Höhe eines Menschen, stand riesenhaft mit hängenden Schwingen auf der eichenen Truhe, und sie hörte, wie das Holz unter seinem Gewicht knackte.
Er stieg langsam von seinem Podest herab, ging geräuschlos über den Dielenboden, und sie hätte nicht sagen können, ob seine Füße die eines Raben oder die eines Menschen waren. Ein süßes, beängstigendes Herzklopfen erfasste sie, als die schwarze Gestalt vor ihrem
Weitere Kostenlose Bücher