Schattengefährte
Entsetzen gelähmt sah sie die Göttin, die sich jetzt in ihre wahre Gestalt verwandelt hatte. Nackt, von schwarzem Haar umweht, das Gesicht voller Blut, den Mund im Schrei weit geöffnet, stand sie auf dem Felsen, größer als ein Mensch und grausam in ihrer Wut. Nur einen Augenblick war sie so sichtbar, dann bedeckte sich ihr Leib wieder mit Federn, und sie breitete die Schwingen aus, um sich als riesiger Rabenvogel auf die Fee zu werfen.
Niam entkam dem tückischen Bann als Erste, das Feenross bäumte sich auf, um die Morrigan mit den scharfen Vorderhufen zu empfangen, Alina jedoch rutschte aus dem Sattel, der Bogen entglitt ihrer Hand, und die Pfeile verteilten sich auf dem eisglatten Boden. Noch im Sturz sah sie den großen Körper der gefiederten Göttin auf sich herabschweben, in ihrem rechten Augen steckte der Feenpfeil, Blut schoss aus der Wunde, der unheimlich gellende Schrei der Verwundeten lähmte ihre Sinne. Alinas Hände tasteten nach ihrem Bogen, doch es war zu spät, die Feindin zu nah …
Da plötzlich zischte ein Pfeil, prallte am Körper der Morrigan ab und sprang gegen einen Fels. Ein zweiter blitzte auf, schwarze Federn wehten durch die Luft, und die zornige Göttin fing ihren Flug ab, verschonte das Feenross, und die am Boden liegende Reiterin schwang sich wieder auf, und ihre Krieger folgten ihr. Schwärme von Pfeilen schienen aus dem Nichts zu kommen, unhörbar, weiß gefiedert und von kundigen Händen abgeschossen, eine lautlose Armee spitzer Nadeln trieb die Raben über das Tal, jagte sie bis zu den schwarzen Bergen hinüber, und ihr wütendes Krächzen verhallte am Horizont.
Alina starrte der Erscheinung ungläubig nach, dann rieb sie sich den schmerzenden Rücken und griff nach dem herabhängenden Zügel ihrer Stute. Wer auch immer ihr da zur Seite gestanden hatte – er hatte ihr keinen guten Dienst erwiesen. Sie musste der Morrigan folgen, beharrlich ihrer Wut trotzen, denn nur auf diese Weise konnte sie Fandur erlösen.
Doch Niam, die ihre Herrin sonst so willig auf den Rücken nahm, drehte sich bockig zur Seite und wollte Alina nicht in den Sattel steigen lassen.
»Was ist los mit dir? Bist du am Ende verletzt? Lass mich nachsehen …«
Die Stute jedoch trabte davon, als habe jemand sie gerufen, so eilig hatte sie es, dass sie immer wieder auf dem glatten, eisigen Überzug des Bodens ausrutschte, und doch setzte sie ihren Weg fort, ohne auf das zornige Schelten ihrer Herrin zu achten.
Eine Weile lief Alina ihr nach, dann gab sie die Verfolgung auf, lief zurück zu der Stelle, an der ihre Waffen am Boden lagen, und lehnte erschöpft den Rücken gegen den Fels.
Auch meine zärtliche, schöne Niam verlässt mich, dachte Alina unglücklich. Die Morrigan ist fort und mit ihr meine Hoffnung, Fandur jemals wiederzufinden. Ach, alles ist umsonst gewesen. Was haben mir Bogen und Pfeile genutzt? Gar nichts.
Wo ist die Kraft meiner Liebe? Sie ist zu schwach, um Fandur aus seiner Not zu erlösen.
Der Felsen in ihrem Rücken war der, auf dem die Morrigan gesessen hatte, hoch und schmal stand er aus dem Boden heraus, mit glattem, durchsichtigen Eis überzogen. Seine Kälte drang Alina schmerzhaft durch Mantel und Gewand, und sie fürchtete, an dem eisigen Fels festzufrieren, deshalb löste sie sich davon und trat einen Schritt vor. Doch das frostige Gestein hatte schon Besitz von einigen ihrer rotgoldenen Flechten genommen, sie hingen dort fest. Alina fasste ärgerlich in ihr Haar, um es von dem anhänglichen Eis loszureißen.
In diesem Augenblick vernahm sie ein Pochen. Leise, kaum hörbar war es, in langen Abständen, doch sie spürte die winzige Erschütterung in ihrem Körper und glaubte zuerst, ihren eigenen Herzschlag zu vernehmen. Doch als sie die Hand an ihre Brust legte, da schlug ihr Herz rasch und laut, das Pochen war so heftig, dass sie es auf ihrer Hand wahrnahm.
Wenn es nicht ihr eigenes Herz war – was pochte dann so dicht in ihrer Nähe? Lauschend bog sie den Kopf zurück und schloss die Augen – da vernahm sie es ganz deutlich in ihrem Rücken. Es war der Fels. Tief im Gestein dieses Felsens schlug das Herz eines lebendigen Wesens.
Erschrocken wandte sie sich um und legte das Ohr an den kalten Stein, und jetzt hörte sie, wie das Klopfen in seinem Inneren rascher und stärker wurde.
Das war das Geheimnis. Die boshafte Tücke der Morrigan. »Tod wäre Erlösung«, hatte Gora gesagt. Die Göttin hatte Fandurs lebendigen Leib zu Fels erstarren lassen.
Sie schluchzte
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