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Schattengefährte

Schattengefährte

Titel: Schattengefährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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Rabe, sondern etwas anderes gewesen sein könnte.«
    Sie hatte wieder auf ihrem Schemel Platz genommen und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die bunten Glasscheiben, in denen das Morgenlicht spielte.
    Ogyn knüllte das Blatt zusammen und warf es in eine Ecke der Studierstube, dann zog er die Nase hoch und warf ihr einen wütenden Blick zu.
    »Was ist das nun wieder, junge Herrin«, rief er vorwurfsvoll. »Wir waren uns doch einig, dass auf Erden Menschen und Tiere leben. Nichts weiter. Also ist ein Rabe ein Rabe und sonst gar nichts. Ein schwarzer, verlauster Aasfresser. Ein gieriger Bursche, der mit Vorliebe dort ist, wo der Tod regiert.«
    Alina erschrak. Natürlich waren die Raben freche Kerle, aber sie waren auch klug, und ihre Flugkünste suchten ihresgleichen.
    »Wo der Tod regiert?«, fragte sie beklommen. »Wie ist das gemeint?«
    Er schlug die kleinen Schweinsäuglein zur Zimmerdecke auf und seufzte, denn er hatte heute keineswegs vorgehabt, die Kenntnisse seiner Schülerin über das Wesen des Rabenvogels zu vertiefen. Er hatte ganz andere Pläne.
    »Nun«, knurrte er. »Die Raben lieben die Schlachtfelder. Sie kreisen über den Kämpfern und geraten in Begeisterung, wenn das rote Blut fließt. Und nach der Schlacht kommen sie herbei, um die gefallenen Krieger…«
    Er stockte, denn Alina war blass geworden.
    »Es sind ziemlich scheußliche Vögel, nicht wahr?«, flüsterte sie schaudernd.
    »Wenn ich zwischen einem Raben und einer Gans wählen dürfte, dann würde ich mich für die Gans entscheiden. Vor allem dann, wenn sie bereits ausgenommen und knusprig gebraten ist …«
    Sie schwieg. Es war eigentlich klar, dass ein Wesen, das aus einem Raben erwuchs – wenn es so etwas überhaupt gab –, auch nur ein Rabengeschöpf sein konnte, blutgierig und grausam. Der Traum war ein Traum gewesen und sonst nichts. Zum Kuckuck mit dieser schwarzen Feder – der Wind hatte sie durchs Fenster in ihr Gemach geweht.
    »Und was die alte Sage betrifft, die Ihr für heute lesen solltet, so würde ich nun gerne wissen, welche Lehre Ihr daraus gezogen habt, junge Herrin. Was ist die Quelle all des Unglücks, das über diese jungen Menschen hereinbrach?«
    Sie wusste, was er hören wollte, und beschloss, die Sache rasch hinter sich zu bringen.
    »Die Liebe.«
    »Ganz recht. Ein Mann, der die Liebe zu einer Frau höher stellt als Ehre und Pflicht, wird daran zugrunde gehen. Aber es gilt auch umgekehrt: Ein Weib, das ungehorsam ist, Vater und Stiefmutter widerspricht und sich etwa einen Ehemann in den Kopf setzt, den sie nicht haben darf, die wird unweigerlich eines jämmerlichen Todes sterben ….«
    Daher wehte der Wind. Jetzt wusste sie wenigstens, weshalb sie diese alberne Geschichte lesen sollte. Hätte der Rabe das blöde Pergament doch gefressen, anstatt es ihr zurückzubringen. Halt! Sie war ja ganz durcheinander. Der Rabe konnte das Blatt nicht wiedergebracht haben, denn er hätte ja den Drusenstein nicht heben können …
    Der Vormittag schien sich ins Unendliche auszudehnen, denn Ogyn drehte die Geschichte hin und her, fand zahlreiche andere Beispiele, die seine Weisheiten bestätigten und ließ seine Schülerin erst gehen, als eine Magd erschien, um anzukündigen, dass die Mittagsmahlzeit gerichtet sei.
    Alina verspürte keinen Hunger. Sie lief die Treppen hinunter in den Burghof und setzte sich unter die Linde, um wenigstens etwas Sonne und frische Luft zu haben. Es war seltsam still auf dem Hof, kein Vogel sang im Baum, auch das Gesinde schlich schweigsam herum, nur die wenigen Knappen, die zu jung waren, um ihre Ritter zu begleiten, mühten sich verbissen im Ringkampf und schlugen mit hölzernen Schwertern aufeinander ein. Fast alle ihre Ausbilder waren mit dem königlichen Heer davongeritten, nur ein paar Graubärte kümmerten sich um die Knaben. Am Tor standen jetzt zwei Knechte und befragten jeden genau, wohin und zu welchem Zweck er unterwegs war.
    An einen Ausflug zu ihrem Lieblingsplatz war nicht zu denken. Stattdessen wurde sie, kaum dass sie einige Minuten gesessen hatte, von einer jungen Magd aufgescheucht, die ihr erklärte, dass die Königin bereits eine ganze Weile auf sie warte. Es war eine von Nessas Mägden, ein dürres Geschöpf mit kühlen grauen Augen und einem langen Kinn, eine hinterhältige Spionin, die nichts anderes im Sinn hatte, als sich das Wohlwollen ihrer Herrin zu verdienen.
    Alina hatte geglaubt, Nessa würde sie in die Geheimnisse der Haushaltsführung einweisen, doch da

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