Schattengefährte
Lager stand, schweigsam wie ein Schatten, unbeweglich als sei er auf der Stelle fest gewachsen. Er sah mit den dunklen, samtigen Augen des Raben auf sie herab, die doch zugleich menschliche Augen waren, und sie erschauerte bald unter seinem Blick, denn er war so eindringlich wie eine Berührung. Gemächlich und ohne Scheu wanderten die dunklen Augen über ihren Körper, der nur mit dem dünnen Leinenhemd bedeckt vor ihm ausgestreckt lag, strichen bedachtsam über ihren Schoß, rührten sacht an ihre heftig atmenden Brüste und legten sich auf ihre geschlossenen Augen. Sie zitterte am ganzen Leib, eine nie gekannte Sehnsucht war in ihr erwacht, zog sich wie ein wirbelnder Strom durch ihren ganzen Körper und setzte sie in Flammen. Da hob die Gestalt eine der mächtigen Rabenschwingen und fuhr damit langsam und in unendlicher Zartheit über sie hinweg, löschte die Flammen in ihrem Inneren aus und überließ sie wieder der kühlen Tiefe des Vergessens.
Kapitel 4
Am Morgen erwachte sie von einem Kitzeln in der Nase, und sie musste niesen. Ein Sonnenstrahl drang zum offenen Fenster herein, fiel flimmernd und wärmend über ihr Gesicht und blendete sie, als sie die Augen öffnete. Sie setzte sich auf und verspürte ein frohes Gefühl, das sie selbst nicht so recht deuten konnte. Vermutlich lag es daran, dass der Gesang des Rotkehlchens zu hören war und der wolkenlose Himmel einen schönen Sommertag versprach.
Leise vor sich hinsummend stieg sie aus dem Bett, wusch Gesicht und Hände und kleidete sich an. Als sie das Haar mit dem Kamm durchfuhr, bemerkte sie, dass sie eines der Lieder summte, die sie bei der Quelle gehört hatte, und sie stockte erschrocken. Aber sie sagte sich, dass es ihren Vater sicher nicht stören würde, wenn sie hier in ihrem Gemach ganz leise vor sich hinsang.
In uralten Wäldern
Auf nebligen Feldern
Im Wasser der Seen
Auf bergigen Höhen
Im Raunen des Windes
Im Ahnen des Kindes
An jeglichem Ort
Leben wir fort.
Das Lied war schön und tröstlich, und sie sang es mehrere Male hintereinander, überlegte, ob es nicht noch eine zweite Strophe gab, doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Dann mischte sich plötzlich das Gekrächze der Raben in die Melodie, und sie sah irritiert zum Fenster hinüber. Vor dem klaren Himmelsblau kreisten die schwarzen Vögel, trieben Kapriolen mit dem Morgenwind, ließen sich emportragen und stachen dann blitzschnell auf den Burghof hinab, so wie der Falke es tut, wenn er ein Opfer erspäht hat. Bei dem Anblick fiel ihr der seltsame Traum wieder ein, und sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Welch ein verrücktes Zeug! Es musste das Gewitter gewesen sein, diese stickige Schwüle, die auf der Erde lastete und den Schläfern seltsame Traumbilder eingab. Ein Rabe, der zur Größe eines Menschen wuchs! So etwas Lächerliches. Warum nicht gleich eine Mücke, die groß wie ein Drachen wurde?
Etwas zerknickte unter ihrem Schuh, und als sie zu Boden sah, erschrak sie. Sie war auf einen Federkiel getreten, gleich neben der eichenen Truhe lag eine schwarze Feder auf dem Boden. Sie hob sie auf und drehte sie zwischen den Fingern, das Licht spielte mit dem seidigen Glanz der Feder und ließ sie bald silbern, bald dunkel, dann wieder bläulich schimmern. Alina blickte unsicher zum Fenster hinaus, wo man die schwarzen Gesellen immer noch umherflattern sah, dann steckte sie das Fundstück, einem raschen Impuls folgend, in ihren Ärmel. Hastig griff sie den Kamm und zerrte an ihrem Haar, bis sie es endlich flechten und gefällig zusammenstecken konnte.
Unten im Burghof war jetzt Lärm zu hören, Alina lief neugierig zum Fenster. Gerüstete Männer standen dort unten, Ritter in Wehr und Waffen scheuchten ihre Knappen, Pferde wurden aus den Ställen in den Hof geführt, Sättel aufgelegt, Schilde und Lanzen herbeigetragen. Was war los? Waren die Kämpfer nicht gerade gestern erst zurückgekehrt? Wieso wollten sie heute schon wieder davonreiten?
Da sah sie ihren Vater aus dem Turmeingang treten, auch er trug den dunklen Kettenpanzer unter dem Waffenrock, und an seinem Gürtel hing das kurze Kampfschwert. Auf dem blauen Grund seines Gewands leuchtete das königliche Wappen, ein goldener Eber mit übergroßen, gebogenen Hauern.
»Sie reiten zum Drachenfluss«, sagte die alte Macha, die leise hinter ihr eingetreten war. »Ein Bote kam noch vor Sonnenaufgang in die Burg, welche Kunde er gebracht hat, das weiß ich nicht. Aber es war gewiss nichts Gutes.«
Also doch!
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