Schattengefährte
Dunkelheit in der Höhle zunächst undurchdringlich. Dennoch tat sie einige vorsichtige Schritte hinein, denn sie wusste, dass der Boden aus flachem Felsgestein bestand. Nur langsam wurde der kreisrunde Raum sichtbar, schattenhaft dunkel hoben sich die unregelmäßigen Felswände ab, der Hintergrund der Höhle war von Geröll ausgefüllt, wahrscheinlich war vor langer Zeit einmal die Decke eingestürzt.
Eine Hexe war nirgendwo zu sehen. Vielleicht hockte sie ja hinter einem der Felsvorsprünge oder zwischen dem Geröll?
»Hallo?«
Es klang hohl, obgleich die Höhle nicht groß war, hallte ihre Stimme von der gewölbten Felsdecke wider. Wieso hatte sie Ogyn nicht danach gefragt, wie man eine Hexe herbeirief? Wie sprach man sie überhaupt an? Vielleicht empfand sie ja die Anrede »Hexe« als Beleidigung?
»Ich bin Alina, die Tochter des König Angus …«
Niemand antwortete. Und doch spürte sie, dass sie nicht allein war. Wasser tropfte leise und gleichmäßig irgendwo im Gestein, es klang hell und schien ein feines Echo nach sich zu ziehen.
»Ich brauche einen Rat …«
Sie musste sich überwinden, doch es war vermutlich besser, sich höflich zu verhalten. Also setzte sie noch einmal an.
»Ich bitte um einen Rat. Wir sind in einer schlimmen Lage und wissen nicht, was wir tun sollen. Wolfskrieger und Drachen bedrohen das Königreich …«
Sie hielt inne und horchte. Nichts außer dem Tröpfeln des Wassers war zu vernehmen, ein eintöniges, leises Geräusch, das die Stille in dieser Felsenkammer noch dichter erscheinen ließ. Es war Leben in dieser Stille, doch es wollte sich nicht regen, es schwieg und wartete. Worauf denn nur? Auf ein Zauberwort? Sie kannte keines.
»Ich … ich wüsste auch gern, wo der Rabe ist … Der Rabenkrieger, der sich Fandur nennt … Ich … sorge mich um ihn, weil … weil ich ihn liebe …«
Sie biss sich auf die Lippen, denn es war gewiss dumm von ihr, dieses Geheimnis auszuplaudern. Wieso hoffte sie auf diese Hexe, die sich nicht einmal zeigen wollte? Vielleicht wollte sich diese boshafte Person einfach nur über sie lustig machen.
»Wende dich um, Alina.«
Die Stimme war leise und sanft – dennoch durchfuhr es Alina wie ein glühender Blitz, und sie spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Langsam drehte sie sich um, kämpfte mit ihrem heftigen Atem und dem wild schlagenden Herzen.
Hinter ihr war ein Felsvorsprung, grau und zerklüftet, als sei vor kurzer Zeit ein Stück davon abgebrochen. Da zeichneten sich vor ihren Augen Linien und Flecken in das unregelmäßige Gestein, Konturen entstanden, als habe sie ein Steinmetz in den Fels gearbeitet, und die Form einer gebückten Alten wurde sichtbar. Sie war klein, Kopf und Körper mit einem grauen, faltigen Tuch verhüllt, nur die scharfe Nase und die Augen stachen hervor. Augen, die einen seltsamen Glanz hatten, der an das klare Wasser erinnerte, das zwischen dem felsigen Gestein herabsickerte.
»Den Raben liebst du?«, sagte die Hexe spöttisch. »Du wirst ihm viel Unglück bringen, Königstochter. Ist das deine Liebe wert?«
Alina stand noch wie erstarrt, und ihr Kopf war wirr. Was hatte sie da gefragt?
»Das ist sie!«, hörte sie sich mit fester Stimme antworten.
Die steinerne Hexe bewegte kaum die Lippen beim Sprechen, nur ihre Augen waren lebendig, und ihr eindringlicher Blick erschreckte Alina mehr, als ihre seltsame Erscheinung.
»Und auch er wird dir Schmerz und Kummer bereiten. Ist seine Liebe das wert?«
Alina spürte, wie das Zittern in ihrem Körper stärker wurde, Schwindel erfasste sie, dennoch klang ihre Stimme so ruhig, als rede nicht sie selbst, sondern eine ihr unbekannte Kraft, die tief in ihrem Inneren wohnte.
»Sie ist es!«
Das Gelächter der Hexe war schrecklich anzuhören, es klang hell und scharf wie Steine, die aufeinandergeschlagen wurden, und es war voller Hohn.
»So nimm dein Schicksal an, das auf den Flügeln des Raben zu dir kam«, flüsterte die Hexe. »Schwarze Finsternis musst du erhellen. Hartes Eis musst du schmelzen. Totes Gestein musst du zum Leben erwecken. Erst dann weißt du, welchen Wert Eure Liebe besitzt.«
Die letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen. Die Umrisse der gebückten Alten verwischten sich, andere Linien im Fels traten wieder hervor, Risse waren zu sehen, die vorher nicht aufgefallen waren, die Gestalt verschwamm vor Alinas Augen und wurde wieder zu Fels.
Eine Weile stand sie noch unbeweglich und starrte auf den Stein, der eben noch zu ihr geredet
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