Schattengefährte
Hügelkuppen mit durchsichtigem Grau, das bald zu dichtem Wolkendunst wurde, der alles Grün verschlang. Auch die fortgeworfenen Schwerter und Stangen wurden vom Nebel verschluckt, die bunten Schilde, zuletzt sogar der schwarze Aschestreifen.
»Lasst uns in einem der Dörfer Zuflucht suchen«, schlug Ogyn vor. »Hier ist es nicht geheuer.«
»Wenn geschehen ist, was ich befürchte«, sagte Alina verunsichert. »Dann sind wir nirgendwo sicher, Ogyn.«
Plötzlich vernahmen sie ein Knirschen hinter sich, der Querbalken, der das Tor von innen verbarrikadierte, wurde emporgestemmt. Langsam schwangen die beiden schweren, mit eisernen Bändern beschlagenen Flügel nach vorn, bis sich zwischen ihnen ein mannsbreiter Spalt geöffnet hatte. Darin stand der Torwächter und starrte ihnen mit angstweiten Augen entgegen.
»Kommt rasch herein. Der König befiehlt seine Tochter zu sich. Es ist eilig.«
»Na endlich!«, sagte Baldin vorlaut und schlüpfte als Erster hindurch. Dann jedoch blieb er erschrocken stehen.
Hinter dem Tor warteten mehrere Ritter mit gezückten Schwertern im Halbkreis, doch sie wendeten sich nicht den drei Ankömmlingen zu, ihre Waffen waren auf die Burgbewohner gerichtet, die sich im Hof versammelt hatten. Angst und Irrsinn war in den Augen der Menschen zu lesen, etliche hatten Brandwunden an Händen und Gesichtern, Haar und Bärte waren verkohlt, die Gewänder schwarz gefleckt. Sie drängten sich eng aneinander, die hinten Stehenden schoben die anderen nach vorn, doch die blanken Schwerter der Ritter zeigten deutlich an, welches Los denjenigen traf, der aus der Burg entkommen wollte.
»Weshalb lässt man sie nicht fort?«, flüsterte Baldin.
»Ich weiß es nicht.«
Kaum war Niam mit ihrer Last durch den Torspalt gelaufen, da zogen die Torwächter die Flügel wieder zu, und der schwere Balken schlug in die eiserne Halterung zurück. Der Burghof bot ein Bild der Zerstörung. Mehrere der kleinen, aus Holz errichteten Gesindehäuser und Werkstätten waren vollkommen ausgebrannt, die Schindeldächer von Scheune und Pferdestall waren eingestürzt, aus den Trümmern stieg immer noch Rauch in den Himmel auf.
»Hier entlang, Herrin!«
Zwei der Ritter wendeten sich Alina zu, verbeugten sich vor ihr und geleiteten sie zum Eingang des hohen Wohngebäudes. Die anderen Ritter folgten mit entblößten Schwertern, als müsse man die Königstochter vor den Menschen im Burghof beschützen. Tatsächlich vernahm sie Gezische und zornige Rufe, junge Mägde und Knechte reckten die Fäuste nach ihr, andere stierten sie an wie ein feindliches Wesen.
»Schaut wie ihr Haar leuchtet!«
»Sie zieht das Unglück an, diese Hure!«
»Nur ihretwegen ist das alles geschehen.«
»Eine Hexe ist sie! Eine böse Zauberin. Fort mit ihr!«
Die ungerechten Anschuldigungen drangen wie Messerstiche in Alinas Herz, denn viele der Menschen, die sie so hasserfüllt anstarrten, waren ihr seit der Kindheit vertraut. Wie vortrefflich war die Saat der Verleumdung aufgegangen! Es wurde ihr ängstlich zumute – weshalb ließ ihr Vater sie rufen? Seit langen Wochen hatte er sich verhalten, als habe er nie eine Tochter gehabt. Was wollte er ihr jetzt verkünden? Dass er sie endgültig verstieß? Dass sie den Rest ihres Lebens im Turm verbringen sollte? Oder noch Schlimmeres?
Es gab kein Zurück, denn in dem engen Treppenaufgang war sie zwischen den Rittern eingezwängt, einige gingen vor ihr her, die anderen folgten ihr dicht auf dem Fuß. Ihre Schwerter steckten jetzt in den Scheiden, doch die Gesichter der Männer waren düster, als gingen sie bereits dem Tod entgegen. Alle waren Graubärte, kein einziger junger Bursche war unter ihnen. Oben am Treppenaufgang erwartete sie Nemed, er trat zur Seite, um die Königstochter mit ihrer Begleitung vorbeizulassen, und Alina sah in seinen Zügen blankes Entsetzen. Die Lust zu spotten war ihm offensichtlich gründlich vergangen.
Die Pforte von Nessas Gemach stand offen, und im Vorübergehen erblickte Alina darin eine Anzahl geöffneter Truhen voller zerknüllter Prachtgewänder, Kästchen glänzendem Schmuck, als habe man diese Dinge für eine eilige Flucht dort hineingeworfen. Dann stand sie vor der Tür des Wohngemachs, in dem ihr Vater sie erwartete.
Ein kleiner Page hockte dort, und zu ihrer größten Überraschung lächelte er sie an.
»Tretet ein, Herrin«, sagte er. »Der König erwartet Euch mit Ungeduld.«
Der Page war noch ein Kind, kaum zehn Jahre alt, doch seine Stimme war fest und
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