Schattengeschichten
schreiben sollte. Übung erforderte es allemal. Dennis postierte sich neben dem Sessel und bückte sich. Sein Gesicht war ganz nahe an dem Glas. Er schielte. Eine Hand gehoben streckte er den Zeigefinger aus und konzentrierte sich. In seinem Kopf formte sich der Wille nach Materie. Ich berühre dich, sagte er zum Glas, ich berühre dich und du fällst runter. So verharrte er Sekunden, bis sein lebendes Ich das Glas in die Hand nahm und in die Küche ging.
Er folgte sich und probierte das Gleiche mit einem Messer, das auf dem Küchentisch lag. Bis er wieder das Zimmer verließ.
„Warte doch. Ich habe gerade erst angefangen.“
Er konzentrierte sich, Meditation war nie seine Stärke gewesen, und sein Wille über Materie wuchs zu einem verbitterten Kampf über das eigene Schicksal. Er spürte die Fasern, wenn er Dinge durchschritt, aber sie zu bewegen, das vermochte er nicht. Schneller, als Dennis es erwartet hatte, gab er sein Vorhaben auf. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben, auf sich aufmerksam zu machen. Auf das unausweichliche Ende aufmerksam zu machen. Vielleicht erlag er ja einem Herzinfarkt und schließlich wäre das unabwendbar. Dann hätte die Stimme sich nur einen Spaß gemacht, aber warum sollte Dennis noch als Geist verweilen, wenn es keine weitere Chance für ihn gab? Das hatte doch seinen Grund, verdammt. Welche Möglichkeiten hatte ein Geist noch? Im Schneidersitz setzte er sich neben sich und dachte angestrengt nach. Und der lebende Dennis erschien nicht im Mindesten ungesund oder sah so aus, als ob er jeden Moment sterben würde.
Für einen Geist erschrak er sehr, als es an der Tür klingelte. Jetzt wird´s interessant, dachte er und glaubte nun an Mord. Der lebende Dennis, gefolgt vom toten, ging zur Tür und betätigte die Gegensprechanlage.
„Wer ist da?“ fragte dieser im angetrunkenen Ton.
„Julia.“
„Was willst du?“
Dem Geist fiel ein, dass sie einen Streit hatten, der die Existenz der Beziehung in Frage gestellt hatte. Warum nur konnte er sich stets erinnern, sobald es eintrat? Was würde als Nächstes geschehen?
„Mit dir reden“, antwortete Julia, „Lass mich rein, Dennis. Es kann doch nicht schon so weit gekommen sein, dass du mich nicht mehr sehen willst.“
„Doch“, sagte er, „genau das wollte ich dir gerade sagen.“
Eine kurze Pause entstand.
„Auf eine Zigarette“, sagte seine Frau schließlich.
Dennis überlegte, während der Geist durch die geschlossene Tür hinaus trat und auf die Ankunft seiner Frau wartete. Der Summer für das Tor, war es nicht vorhin offen gewesen?, wurde betätigt und Julia betrat das Grundstück.
Mit einem fremden Mann! Dem sie mit einem Handzeichen deutete, er solle sich zunächst im Gebüsch neben der Haustür verstecken.
Der Mörder, dachte der Geist, da haben wir ihn. Und ich Idiot bin ahnungslos im Flur und warte auf die Worte meiner Frau. Irgendwas muss ich unternehmen, verdammt. Da verriet ihm sein Verstand einen Geistesblitz.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Waren Geister nicht dazu befähigt, in lebende Körper zu gleiten und von ihnen Besitz zu ergreifen? Diese Möglichkeit musste er probieren. Es gab keine andere. Dennis würde in den Körper des Fremden gleiten und den Plan des Duos durchkreuzen. Der Schmerz, dass Julia ihn ermorden ließ, war zu groß, als dass er ihn in diesem Moment hätte realisieren können. Zu aufgeregt war er ob der neuen Möglichkeit.
Er suchte die Stelle im Gebüsch, hörte es rascheln und erblickte schon die Gestalt des Liebhabers; er war wohl ihr Liebhaber; gemeinsam würden sie sich sein Geld teilen. Ein großer, zweifellos schöner Mann um die dreißig. Stärker und dünner als Dennis selbst.
„Dich nehme ich mir“, sagte er laut. Natürlich wurde er nicht gehört. „Du Arschloch. Mich töten wollen.“
Der Geist drehte sich mit dem Rücken zum Mann und ging langsam einige Schritte zurück, bis er das Leben spürte. Er hockte sich in die gleiche Stellung und deckte nun seinen feinstöfflichen Körper mit dem des anderen. Er brauchte sich gar nicht lange konzentrieren, bis seine Gedanken mit denen des Fremden verhafteten. Es funktionierte. Die Besessenheit nahm seinen Lauf. Zunächst kämpfte er gegen die Obsession, gegen die Liebe zu seiner Frau und gegen die Furcht, die dieser Mann empfand. Er hieß Antonio, kam aus Italien. Ja, er hatte einen südländischen Teint. Seine Kindheit hatte er in Sizilien verbracht, bis seine Familie nach Deutschland gekommen war, um mehr Geld
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