Schattengeschichten
wohlklingenden Stimme. Vielleicht hoffte Xavier Gudruns Stimme zu hören, jener Putzfrau, die die Zimmer im zweiten und dritten Stock des Hotels zu reinigen hatte, in dem er arbeitete. Jedenfalls war er sehr enttäuscht, als ein Mann antwortete.
„Hallo, Xavier“, sagte dieser im nasalen Tonfall, „Wie geht es dir, mein alter Freund? Erinnerst du dich schon?“
„Na, hör mal“, schnauzte Xavier, „Du störst mich bei meinem Feierabend. Das ist mir noch nie passiert. Allen ist wohl bekannt, dass ich meine Ruhe will. An so einen wie dich würde ich mich erinnern.“
„Immer noch der gleiche, kleine, untersetzte, kläffende Sack, was? Na, macht nichts. Für das, was folgen wird, kannst du meinetwegen so fett sein wie Wal.“
Irgendetwas in dieser unsympathischen Stimme klang sehr bekannt. Xavier wusste, wer sprach, auch wenn ihm der Name entfallen war. Und dass dieser ihn anrief, verhieß nichts Gutes.
„Na, dann bin ich eben dick. Aber du bist unhöflich“, sagte Xavier und legte auf. Solche Beleidigungen ließ er sich nicht gefallen, hatte er früher nicht (während der Hexenverfolgung) und das würde er auch heute nicht dulden. Aber diese Stimme; so entfernt in der Vergangenheit und doch ein unheilverkündendes Omen. Noch vermochte Xavier das Unaufhaltsame ignorieren, aber er wusste, während der Film lief würde es zu einer erneuten Konfrontation kommen. Nicht viel später klingelte es an seiner Haustür.
„Hört das denn nie auf?“ brummte er und erhob sich schwerfällig. Seine Lieblingsstelle des Films hatte er schon bei Telefonieren verpasst. Jetzt würde der Held den Oberbösewicht bei einem Faustkampf vernichten. Auch das sollte Xavier verpassen. Na, großartig. Dieser Samstag Abend war verflucht.
Langsam schlurfte er über den Flur, betrachtete sich kurz im Spiegel; seine massige Gestalt und sein fettes Gesicht, das aber vor Freundlichkeit ganz jung und niedlich wirkte. Es klingelte erneut. „Ja, doch, ich komme.“ Vor seiner Wohnungstür hob Xavier den Hörer der Gegensprechanlage an sein Ohr. „Wer ist da?“
„Xavier“, ertönte eine zittrige Frauenstimme, „Hier ist Ariane. Lass mich rein. Wir müssen reden.“
„Ariane?“ fragte er ungläubig und hoffte, dass er sich verhört hatte.
„Ja, ich bin’s“, raubte ihm die Stimme alle Illusionen, „Mach auf, Xavier. Es ist dringend.“
Er wusste nicht recht. Freute er sich, sie wieder zu sehen? Schließlich war Ariane eine sehr alte Freundin von ihm. Aber irgendetwas störte ihn auch hier. Wie schon bei der Stimme im Hörer, die er kannte, aber nicht zuordnen konnte. Ariane war eine der wenigen Hexen, die den großen Kampf überlebt hatten. Damals, als sich alle weiblichen Geschöpfe, die der Zauberei bemächtigt waren, in zwei Lager spalteten, sich zunächst in Diplomatie versuchten, bis ein Krieg unvermeidlich wurde. Denn nur so, meinten sie, konnte endgültig festgestellt werden, wer im Recht war.
Großartige Denker, wie Xavier einer war, verglichen diese Entwicklung ihrer Zunft mit den barbarischen Methoden der Menschen, wurden aber durch Verfolgung mundtot gemacht. Schließlich hatten sich die Hexen mit allen Mitteln bekriegt. Ein unfassbares Blutbad. Dieser Anrufer hatte damit zu tun gehabt, das wusste Xavier, aber, verdammt, sein Gedächtnis...
Ariane war damals verschwunden, hatte sich nie wieder gemeldet. Und das, obwohl sie ein Liebespaar gewesen waren, jahrzehntelang. Und nun war sie hier. In Hamburg. Bei Xavier.
Auch das bedeutete nichts Gutes.
Er öffnete Ariane und dann seine Wohnungstür, lauschte den Schritten im Treppenhaus. Das Licht hatte sie nicht angestellt. Ihre Augen waren vielfach besser als seine. Ariane erschien so plötzlich aus dem Dunklen, dass Xavier für einen Moment erschrak.
Sie trug ihre roten, lockigen Haare nun bis zum Po, zu den Sommersprossen in ihrem mädchenhaften Gesicht hatten sich weitere gesellt und ihre blauen Augen strahlten, als sie ihn erblicken. Flüchtig küsste sie ihm auf die Wange.
„Hallo, Xavier.“
Erleichterung schwang in ihrer Begrüßung mit.
„Komm rein“, sagte er. Ihre Frische im Gesicht hatte getrogen, ein stetiges Auf- und Niedersenken ihres Kopfes wies auf Nervosität hin. Und ihre Fingernägel waren abgekaut.
„Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte sie.
„Nun setz dich erst mal. Du bist ja richtig durcheinander.“
„Ja“, erwiderte sie und blickte sich in seiner Wohnung um; sah die verschiedenen Gemälde, die an ocker gestrichenen Wänden
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