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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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Stuhl gerückt wurde oder wie der Teekessel drüben pfiff. Und immer wieder hörten wir die Türklingel. Wir hörten, wie B dann durch die Wohnung ging, um auf den Summer zu drücken. Und dann kamen Schritte die Treppe hoch.
    Während Polly auf dem Sessel sitzen blieb und die Bündchen meiner alten Jacke mit Leder verstärkte und aufpeppte, stand ich von meiner Unterrichtsvorbereitung auf und schlich zum Spion.
    „Sie ist fünfzehn, würde ich sagen, vielleicht sechzehn“, flüsterte ich. „Vielleicht gibt B Musikunterricht?“
    „Klar“, sagte Polly. „Und was für ein Instrument soll das sein? Luftgitarre?“
    Das stimmte natürlich. Von nebenan war nie etwas zu hören. Bis auf das Radio, das immer nach einer Weile anging.
    „Dann eben Nachhilfe“, sagte ich. „Ob man damit eigentlich mehr verdient als die acht fünfzig pro Stunde, die Paul mir zahlt?“
    Ich hatte, um Gudrun zu entlasten, samstags und sonntags je vier Stunden übernommen. Ich hatte jetzt einen Nebenjob.
    - - -
    Vincent hing an Polly. Er hing an ihr mit jeder Faser. Jetzt glaube ich sogar, dass Polly für ihn der einzige Mensch war, dem er vertraute. Ich war nicht eifersüchtig. Ich war glücklich. Polly hatte nie Freunde gehabt.
    Während andere Leute zusammenzuckten, wenn ich mit Polly irgendwo auftauchte, schien Vincent nur bei ihr seine Angst zu verlieren. Und er hatte oft Angst. In den ersten Tagen schlief er kaum. Er zitterte, wenn ich ihn ansprach, zitterte, wenn ich durchs Zimmer ging. Beobachtete mich. Angespannt und wachsam. Nachts saß er wach oder lief durchs Zimmer. Hin und her. Ich hörte seine leisen Schritte.
    Tagsüber zuckte er bei jedem Geräusch zusammen. Wenn an Bs Tür die Klingel ging und wieder einmal Besuch kam. Wenn dann das Radio nebenan ansprang. Er zuckte auch zusammen, wenn ich mit den Töpfen klapperte.
    Nur Polly konnte Krach machen, soviel sie wollte. Sie konnte durch die Wohnung trampeln, sie konnte die Schranktüren zuschlagen, sie konnte laut und falsch singen – er verfolgte all ihre Bewegungen vom Sofa aus, die Augen halb geschlossen, irgendwie selig. Abends, wenn die auf dem Fensterbrett aufgereihten Teelichter angezündet waren und die kleinen Flammen in der Heizungsluft tanzten, während Polly rote Perlen auf eine Tasche nähte, setzte er sich auf ein Kissen am Boden, zu ihren Füßen.
    Ich dachte lange, dass Vincent deshalb so an ihr hing, weil sie ihn befreit hatte. Zwar hatten wir beide ihn aus dem Wasser gezogen, doch es war Polly gewesen, Pollys grandiose Selbstüberschätzung und ihr wutroter Sinn für Gerechtigkeit, der ihm das Leben gerettet hatte. Heute glaube ich jedoch, dass er sie auch vorgezogen hätte, wenn ich selbst ihn verteidigt hätte.
    Weil er Polly eben mehr mochte. So einfach war das. Er mochte ihre schüchterne und zugleich furchtlose Art. Ihr flog sein Herz zu. Nicht mir. Von ihr ließ er sich beruhigen, schloss sogar die Augen, wenn sie mit ihm sprach.
    Nur seine Ohren zuckten. Und die Barthaare zitterten ganz leicht. Und dann – nach einer Weile – fing er an zu schnurren.
    - - -
    Wir bekamen B nicht zu Gesicht. Am Anfang war es wirklich nur Zufall gewesen, es hatte sich einfach nie ergeben. Aber später dann achtete ich bewusst darauf, ihr oder ihm nicht in die Arme zu laufen. Wenn ich dabei war, die Wohnung zu verlassen und hörte, wie B ebenfalls die Wohnung verließ, blieb ich wie angewurzelt stehen und wartete. Wartete, bis B die Treppe hinabgestiegen war und die Haustür ins Schloss fiel. Erst dann öffnete ich meine Tür.
    Ich weiß nicht genau, warum ich das tat. Ich glaube, ich wollte mir einfach das Geheimnis bewahren. Das gelang mir auch. Bis zu dem Tag in der Straßenbahn.
    Ich war am Wasserturm zugestiegen, zusammen mit einem Schwung anderer Leute. Eine Frau mit einem Kind an der einen Hand, einem schwarzen Labrador an der anderen und mehreren Tüten quetschte sich neben mir noch in den Wagen hinein. Das Kind heulte und war offenbar fest entschlossen, sich auf den Boden zu werfen, sobald die Frau es loslassen lassen würde. Sie fummelte am Entwerter herum. Ich wollte ihr helfen, als ich plötzlich Bine sitzen sah. Bine in ihren zart zerrissenen Sachen, mit schwarz geschminkten Lippen und geschnürten Stiefeln. Ich drängelte mich zu ihr durch.
    „Hi“, sagte ich lächelnd, als ich neben ihr stand. Bines Hund sah zu mir hoch, und ich streichelte ihm kurz über den Kopf.
    „Hi, cool!“, rief Bine und grinste mich an. „Wie geht’s dir?
    „Hab mich schon

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