Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Meter, den wir durchpflügen, dachte ich, ist ein Meter näher an Schweden. Ich musste die ganze Zeit aufpassen, vor Freude nicht einfach loszukreischen. Es war nicht zu fassen! Noch einmal kniff ich mich in den Arm, um mich zu vergewissern, dass es wirklich stimmte: Ich saß nicht in der Küche bei Ina, musste mir nicht ihr stumpfsinniges Gequatsche anhören, während ich stundenlang Paprika, Tomaten, Zwiebeln und Gurken für die Burger klein schnitt. Ich war auch nicht mit Carsten im Hof, um ihm dabei zu helfen, das Garagentor zu streichen. Diese blöde Garage war seine neueste Idee gewesen. Sie bot Platz für zwei Autos oder vier Motorräder und war für die Urlauber gedacht, die in den beiden neu errichteten „Fremdenzimmern“ übernachteten. Eins davon war Mas ehemaliges Zimmer. Ina hatte es gelb gestrichen und Kiefernmöbel hineingestellt. Nein, es war noch nicht einmal ganz Mittag, aber ich stand schon mit Polly an Deck, wir beugten uns weit über die Reling, und ich ließ meine Hand mit dem ausgestreckten Mittelfinger in die Richtung fliegen, wo ich Schönewalde vermutete. Ich war sie los! Ich war sie endlich, endlich los!
In Malmö nahmen wir einen Bus. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, ich war noch nie weiter weg gewesen, außer zu Klassenfahrten. Carsten und Ina hatten ständig versucht, mich zum Wegfahren zu animieren, Ina hatte davon geredet, dass ich ein Auslandsjahr in einer Highschool in Amerika machen sollte, dass es gut wäre für mein Selbstbewusstsein, mein Englisch und so weiter. Aber je mehr sie auf mich eingeredet hatten, umso unbeweglicher war ich geworden. Ich hatte mir vorgestellt, ein Stein zu sein, riesig wie ein Findling, der seit dem Ende der Eiszeit schwer und reglos im Weg lag. Irgendwann hatten sie sich daran gewöhnt.
Ich sah aus dem Busfenster, und auf der Straße, auf den neben uns rauschenden Autos und den Bäumen lag ein Schimmer – heckenrosenfarbenes, schwedisches Licht, das alles zu bedecken schien.
Drei Stunden später stiegen wir in Lennartsfors aus. Nästeviken hatte keine Haltestelle.
Polly holte die Karte aus dem Rucksack und führte mich durch den Wald. Sie verlief sich kein einziges Mal, obwohl der Weg sieben Kilometer lang war, ein schmaler Pfad, der sich durch Kiefern und wilden Farn wand, durch das stark duftende Herz des Waldes. Polly lief vor mir her, sie hätte den Weg garantiert auch im Dunkeln gefunden, Wälder waren ihr Zuhause. Der Rucksack lastete, der Riemen schnitt ins Fleisch, doch Polly war aufgeregt wie ein Schwarm Schmetterlinge und trieb mich an.
Der Hang, als wir aus dem Wald traten. Und das Dorf, so stotterig über diesen Hang verteilt.
Dorf war für Nästeviken im Grunde eine unpassende Bezeichnung. Es bestand aus kaum mehr als einer Handvoll Gehöften. Ein jedes hatte etwas Verwischtes an sich, etwas Hastiges. Ein jedes sah aus wie kurz in Farbe getunkt und eilig hin- und hergeschwenkt, damit es schneller trocknete. Die Dächer wirkten wie über die Mauern geworfen und die Schornsteine wie schnell hineingedrückt.
„Vielleicht war es früher mal eine geschlossene Siedlung gewesen“, sagte Polly, „und dann sind die Häuser vor einer Gefahr aufgeschreckt und in alle Richtungen davongespritzt!“ Ja, genau so sah das Dorf aus. Als ob die Häuser sich nach einer hastigen Flucht einzeln unter die Krüppelkiefern gehockt und beschlossen hätten, von nun an in dieser weit verstreuten Form zu verharren.
Und dann sahen wir unser Haus. Nein, das Haus von Tove Jansson. Es lag so, dass es aufs Wasser wies, genau wie er beschrieben hatte.
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Wenn man sich verliebt, dann kann das langsam passieren, ein behutsames Kennenlernen. Als würde man an zwei Enden einer Hundertmeterbahn stehen und sich Tag für Tag einen Schritt näher kommen.
Und es kann etwas Jähes sein. Ein heftiger Schlag vor die Brust, der einen zu Boden wirft.
Ich hatte mich verliebt. Etwas in mir ging für den Bruchteil einer Sekunde zu Boden, als ich das Haus zum ersten Mal sah.
Es stand ganz oben am Hang. Am weitesten von allen anderen Häusern entfernt. Es war schäbig, vom Wetter verbraucht. Im Gegensatz zu den anderen Häusern jedoch, die sich in die Kuhlen und Senken des Hangs pressten und allesamt etwas Geducktes ausstrahlten, war unseres mutig. Behauptete Polly. Schließlich hatte es sich als Einziges so ungeschützt mitten auf die Spitze gestellt.
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Die Zeit in Tove Janssons Haus war bis zu dem schrecklichen Irrtum unsere glücklichste.
Nästeviken war
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