Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
von Menschen bewohnt, deren gegenseitiger Respekt darin zu bestehen schien, einander nicht unnötig zur Kenntnis zu nehmen. Wir bekamen niemanden zu Gesicht, aber sie mussten da sein. An kühlen Tagen stiegen dünne Rauchfäden aus den Schornsteinen auf. Hin und wieder kreischte eine Kreissäge. Und nachts hörten wir Hunde heulen. Immer nur einen, niemals mehrere zusammen. Selbst die Hunde, sagte Polly, scheinen sich an die heimliche Abmachung zu halten, einander nicht zu antworten.
Die Zurückhaltung der Nachbarn war ein unerwartetes Glück. Polly musste kein Reißaus nehmen, sobald ein Geräusch sich näherte, so wie Zuhause, wenn Ina oder Carsten die Treppe hochkamen. Wir waren die ganze Zeit zusammen. Keiner sah uns schief an, es kümmerte sich einfach niemand um uns. Dieses wackelige Haus, der wuchernde Garten, der Hunger der Natur überall – es war, als würde ich etwas zurückbekommen.
Wir fühlten uns mit jedem Tag wohler. Genossen die frische, scharfe Morgenluft, wenn wir auf der Veranda frühstückten. Genossen auch die Mittage im Garten, unter dem wolkigen Dach aus Knöterich und wildem Wein. Die Abende am See, glitzernd wie Blattgold. Blitzende Lichtreflexe auf Pollys Armen, sie streckte sie aus, lachte, die Funken hüpften ihr ins Haar.
Bleib bei mir, dachte ich. Bleib bei mir, und nichts wird jemals schief gehen. Und im Hintergrund meines Kopfs, funkelnd wie der See, flirrte und schwang ein Gedanke: Alles Unheil ist ohne dich, es kommt nicht bis zu dir, weil es dich nicht kennt. Niemand kennt dich.
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Der Tag des Irrtums fiel in einen plötzlichen Wetterwechsel. Da waren wir schon über einen Monat dort. Es war der dritte August. Einige Tage zuvor hatte es zu regnen begonnen, und es hörte nicht auf.
An jenem Morgen erwachte ich fröstelnd und sah in den feinen Niesel hinaus. Ich drückte das Fenster zu. Polly schlief noch, die Decke bis unter die Nasenspitze gezogen, und ich stand leise auf und machte ein paar Kniebeugen, um warm zu werden.
Dann stellte ich mich mit der Kaffeetasse in die offene Haustür und sah aufs Wasser. Über die Veranda wehte feuchtes Laub vom Vorjahr. Alle Blüten waren zu, die Bäume tropften. Ich ging mit der Tasse in der Hand durch das nasse Gras hinunter zum Ufer. Die Luft war satt von Feuchtigkeit und legte sich wie ein Schleier aufs Gesicht.
Irgendwas war mit dem See. Er schien ein Stückchen gesunken zu sein, obwohl das nicht sein konnte. Er hatte am Rand große Steine entblößt. Wie Zähne, dachte ich. Außerdem benahm er sich wie das Meer. Er rauschte, und die Wellen zogen schnell und grau vorbei.
All dies erinnerte mich an eine Traumlandschaft, dachte ich. Und plötzlich war es da: dieses eigenartige Gefühl, die Situation schon einmal erlebt zu haben. Irgendwann, ganz früher. Oder nein, dachte ich: umgekehrt. Als würde ich alles erst später erleben. Mir war kühl, ich drehte mich um und ging zum Haus zurück. Vorher lief ich jedoch noch einmal zum Anbau hinüber, drückte die Tür auf.
Der Anbau war ein kleiner Verschlag, in dem Regale mit Einweckgläsern, der Rasenmäher und Gartengeräte standen. Und ein merkwürdiges Gerät, das aus zwei Metallbehältern bestand mit Ventile und Schläuchen daran. Einer stand auf eisernen Stelzen, der andere auf dem Boden, und beide waren durch ein Rohr miteinander verbunden. Eine Art Einweckmaschine, vermutete ich.
Ich griff nach einem gelben Stoffbündel, das Polly vor ein paar Tagen entdeckt hatte, klemmte es unter den Arm und verschloss dann die Tür wieder.
Der Tag erholte sich nicht von der Erkältung, dumpf und grau und klamm verlief er, und die leise, belanglose Musik aus dem Radio passte dazu. Sie passte zu Tove Janssons Haus, unserem Haus, denn sie machte alles deutlicher. Sie gab dem dürftigen Teppich und den müden Tapeten eine seltsame Tiefe und Farbigkeit. Sie hob die vom Rauch geschwärzten Ecken des Zimmers hervor und hellte das altersstumpfe, erstickte Blau des schweren Tongeschirrs auf, das im Küchenbord stand. Sogar das Knistern im Kamin schien körperhafter zu werden.
Wir blieben den ganzen Tag drin. Polly hatte sich das gelbe Stoffbündel vorgenommen. Sie wollte Vorhänge daraus nähen. Sie setzte sich neben mich, während ich uns Feuer im Kamin machte, das Bewegungen an die Wände warf, Schatten und helle Glutfinger. Feuer am dritten August, dachte ich.
Mit der Dämmerung war es nebelig geworden. Der Nebel kam aus dem See und stieg langsam bis zu uns hoch. Wir hängten die Vorhänge in
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