Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Garten zu dem Anbau gezogen. Hatten ihn vorsichtig in das Loch des Bunkers hinabgelassen. Flaschen waren dabei aus den Wandregalen gefallen. Wir hatten den Läufer aus dem Korridor geholt und ihn über der Luke ausgerollt, hatten den Werkzeugschrank verrückt, bis er direkt über der Luke stand. Polly hatte das Notizbuch, das Tove Jansson bei sich gehabt hatte und in dem unsere Adresse gestanden hatte, im Kamin verbrannt. Und dann hatten wir das Haus geputzt. Hatten es gereinigt, vollkommen von unserer Anwesenheit gesäubert.
Wieso? Wieso hatten wir niemanden geholt? Es war ja ein Irrtum gewesen. Polly hatte sich nur gewehrt. Aber Tove Jansson war tot.
„Er hat mich nicht angegriffen“, sagte sie immer wieder in jener Nacht. „Er hat nur sein Haus betreten und ist durch den Korridor zur Treppe geschlichen. Er hat irgendetwas gesucht. Er hat mich nicht angegriffen. Und wenn er mich nicht angegriffen hat, dann war es auch keine Notwehr, Mila. Ich hab … ich hab ihn einfach umgebracht.“
Als die Sonne aufging, war Tove Jansson verschwunden. Das Haus war lupenrein, bis in den letzten Winkel. Als wir gingen, legten wir den Schlüssel in die Kiepe.
S
Jedes Jahr am dritten August wachten wir mit einem Gefühl von Kälte, Regen und Trauer auf. Ich glaube, wir beide haben über die Jahre versucht, das Licht vor und hinter diesem Ereignis zu löschen, und so sind nun Strecken davor und danach in Dunkel getaucht, doch der dritte August selbst, dieser Bereich in unserer Erinnerung, der den Anbau beherbergte, war hell ausgeleuchtet, ein Licht, das sich weder löschen noch dimmen ließ.
Am Anfang, als wir gerade ins Studentenwohnheim eingezogen waren, riefen wir jeden Tag Tove Janssons Nummer an. Wochenlang. Hörten auf das Freizeichen. Ein Telefon, das ins Leere klingelte. Irgendwann hatten wir aufgehört anzurufen.
Wir redeten nicht darüber, aber ich wusste, dass auch Polly sich fragte, ob jemand Tove Jansson vermisste. Ob sie ihn schon gefunden hatten. Ob sie ihn überhaupt suchten.
Als wir am zweiten Jahrestag dieses schrecklichen dritten Augusts wieder die Nummer wählten, was wir von da an jedes Jahr taten, kam kein Freizeichen mehr, sondern eine automatische Stimme, die mit freundlicher Bestimmtheit verkündete: „The number you have dialed is not available. Please try again!“
V Hitze - Elf Jahre zuvor
Das Gasthaus Zum Anker war bekannt für seinen Bohneneintopf.
Wenn Ma mich morgens weckte, standen schon große Töpfe auf dem Herd, und es duftete im ganzen Haus nach Majoran und Bohnenkraut. Draußen, auf der Schotterstraße, wartete Jenny Ziegler mit ihrem pinkfarbenen Scout-Ranzen auf mich. Ich konnte sie nicht leiden, aber das hielt sie nicht davon ab, mich jeden Morgen abzuholen. Kam ich mittags aus der Schule zurück, waren die Tische gewischt, der Boden gescheuert. Eine Handvoll Leute saß im Schankraum und aß etwas, doch das richtige Geschäft begann erst am Abend. Dann stand Ma am Tresen und zapfte Bier. Ich lag im Dunkeln im Bett, und wenn ich keine Kassetten mit dem Walkman hörte, dann lauschte ich auf das Lachen und die leise Musik von unten.
Papa machte nicht mehr hinterm Tresen mit. Er arbeitete nur noch „im Hintergrund“, wie er sich ausdrückte. Tagsüber saß er in seinem Arbeitszimmer, telefonierte mit den Brauereien, erledigte die Bestellungen. Er tippte Zahlen in den Taschenrechner und klapperte mit der Schreibmaschine. Wenn er die Buchhaltung machte, lag der ganze Schreibtisch voller Zettel. Gegen Mittag kam er die Treppe herunter in die Küche, setzte sich auf seinen Stuhl, einen Zeichenblock auf dem Schoß. Wenn ich ihn bestürmte, mir etwas vorzulesen, las er Der Goldkäfer und Die Grube und das Pendel oder Der Untergang des Hauses Usher.
„Geschichten sind etwas ganz Besonderes“, sagte er mir. „Wenn jemand dir eine Ohrfeige gibt, dann geht das irgendwann weg. Aber Worte – die bleiben manchmal für immer.“
Ma ärgerte sich darüber. „Mila ist zu klein für Edgar Allan Poe! Da kriegt sie Alpträume!“ Sie legte uns Bootsmann auf der Scholle hin. Das war auch ganz okay, doch sobald sie aus der Küche war, bettelte ich Papa an, bis er schließlich den Bootsmann-Umschlag um das Poe-Buch legte und weiter vorlas.
Lieber als Bücher mochte Ma Spruchweisheiten. Sie hatte eine Sammlung Geschirrtücher, die sie in unserer Küche und im Schankraum über dem Klavier aufgehängt hatte. In den Stoff war gestickt: Borgen bringt Sorgen. Oder: Verlierst du auch die Schuhe, so
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