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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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Körper und ängstlichem Mund. Alles an ihr wirkte plump und unförmig, nur dieser Mund hatte etwas erstaunlich Bewegliches. Sie neigte zu häufigen Tränenausbrüchen, die von einem lebhaften Zittern ihrer Unterlippe angekündigt wurden. Anfangs hatte mich diese Unterlippe brennend interessiert, so wie alle anderen Kinder auch, und wir hatten uns vor Jenny gestellt und sie so lange angestarrt, bis sie vor Verlegenheit nicht mehr weiterwusste, bis die Unterlippe endlich bebte und die Tränen kamen. Später war mir das Weinen peinlich gewesen, und wie jeder übersah ich es.
    Jenny war eine Klette, doch während alle anderen Kinder es schafften, die Klette auszureißen, hing sie an mir fest.
    Ich zog eine Tüte aus meinem Rucksack, und Jennys Hysterie sackte zusammen. Ich wusste, dass sie lieber in einem Keller ohne Licht eingesperrt gewesen wäre, als hier am Weiher zu sein, aber sie lief nicht weg. Hatte sie Angst, mich allein hier zu lassen? Oder traute sie sich ohne mich nicht zurück durchs Schilf? Es war mir egal. Ich legte mich auf den Bauch und zog die Tüte langsam durchs Wasser, und während sie sich mit Kaulquappen und Seewasser füllte, stand Jenny reglos da. Dann und wann zog sie einen Fuß in die Höhe, unter dem sich eine Lache brackigen Wassers gebildet hatte. Sie jammerte nicht, sie bettelte auch nicht mehr, sondern fügte sich stumm in ihr Schicksal. Als die Tüte voll war, stand ich auf und wir gingen zurück.
    Im Winter war der Weiher zugefroren, der Schilfwald versteinert. Die Halme ließen sich brechen wie Glas. Im Winter durften alle Kinder zum Weiher. Sie fuhren Gleitschuh und kickten Tannenzapfen mit Stöcken über die winzige Eisfläche.
    Ich mochte den Weiher im Sommer lieber. Wenn ich Jenny Ziegler erst vergrault hatte, gehörte er mir allein. Ich hatte einen geheimen Fleck. Unter einer Trauerweide, direkt am Ufer. Die Zweige griffen auf einer Seite ins Wasser, zur Landseite hin hingen sie bis auf den Boden herab. Bog ich sie zurück und schlüpfte in den Zwischenraum, war ich in Halbreich. Halb Wasser, halb Land. Halb Licht, halb Schatten. Das Reich, das zum Totensee führte.
    Alle Kinder redeten nur vom Totensee , wenn sie den Weiher meinten. Der Name gehörte uns, er war eins dieser Geheimnisse, das die Erwachsenen ausschloss, und das wir flüsternd untereinander weitergaben. Jedes Besuchskind wurde eingeweiht. Vielleicht wussten wir Kinder mehr als die Erwachsenen. Wir wussten, dass alle Dinge mindestens zwei Namen haben.
    Einmal dachte ich: Wenn Erwachsene vorher Kinder waren, müssten sie den Namen des Weihers kennen. Aber niemand schien sich zu erinnern. Und so stellte ich mir das Erwachsensein wie eine Krankheit vor, die nach und nach das Gedächtnis löschte. Ich wollte nie so werden.
    Der Totensee. Und ich hatte herausgefunden, dass er sich nur tot stellte. Denn wenn ich lange Zeit ganz still in Halbreich saß, vergaß der Totensee irgendwann, dass ich da war, und fing an zu atmen. Winzige Blasen stiegen auf und platzten auf der Oberfläche. Hin und wieder hörte ich ein schnappendes oder gurgelndes Geräusch, doch sobald ich auf die Stelle im Wasser schaute, wo etwas von ganz unten nach oben geschwommen war, um Luft zu holen, war es bereits vorüber, und nur die auslaufenden Kreise zeugten vom versteckten Leben unter der Oberfläche.
    Ich saß unter der Weide, nahm meinen Rucksack ab und griff in das Seitenfach. Ich zog den silbernen Löffel heraus, über dessen Griff sich ein graviertes „Mila“ zog. Mit den Händen schaufelte ich ein Loch in die lockere, feuchte, schwarze Erde, legte den Löffel hinein und schaufelte die Erde wieder auf. Dann zog ich einen hellen Kiesel aus meiner Hosentasche und legte ihn auf die Stelle. Zufrieden sah ich mich um. In regelmäßigen Abständen lagen Kiesel überall, meine Geheimschrift.
    Seit ich schreiben konnte, faszinierten mich Buchstaben. Ma hieß Marie, das waren fünf Buchstaben. Der fünfte Buchstabe des Alphabets war E. Ich hatte lauter E’s aus Zeitungen geschnitten und sie überall verteilt. Unter dem Federkissen. In ihrem Brillenetui. In dem Glas mit den Herztabletten – Schutz-E’s. Papa hieß Arnim, das waren auch fünf Buchstaben, für ihn galten die E’s gleich mit. Eins hatte ich zwischen die Polster seines Sessels gesteckt.
    Bevor ich geboren wurde, war Papa Zeichner in Dresden gewesen. Er hatte die ganzen grausigen Bilder in dem Buch von Edgar Allan Poe gezeichnet: das scharfe Pendel, das sich über den Gefesselten

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