Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
senkte, die kochenden Strudel des Malstroms und Berenice, die in ihrem weißen Totenkleid wiederauferstanden war. Dieses Totenkleid war ein Kunstwerk. Es bauschte sich in hundert Falten und weißen Spitzenrüschen über eine ganze Buchseite. Papa hatte auch die Klaviertasten und die Fingerübungen in dem Heft Unterm Notenbaum gezeichnet und alle Pflanzen, die in der Großen Enzyklopädie der Heil- und Giftpflanzen abgebildet waren, sämtliche Blüten und Samen und Stängel. Von vorn, von oben und in der Mitte durchgeschnitten.
Die Pflanzenzeichnungen waren überall im Haus verteilt: Wiesenschaumkraut und Eberwurz hingen in der Küche. Lila Disteln, Trompetenbaum und Goldlack rauschten, in helle Rahmen gespannt, im Korridor. Durch Mas Zimmer rankten sich Blumenrohr und Frauenhaar. Und ich selbst schlief, seit ich denken konnte, in einem Bett, das von Zaunrinde und Lerchensporn umgeben war.
Im Schankraum aber hing Schierling. Federgezeichneter Schierling in allen Größen und von allen Seiten, mit weißen Blüten und weinrot überlaufenen Stängeln, bläulich bereift. „Schierling“, hatte Papa immer gesagt, und die Fältchen kräuselten sich dabei um seine Augen, „ist das beste Mittel gegen Trunkenheit.“
Nach der Schule suchte ich bei meinen Streifzügen durch den Wald nach Schätzen. Ein besonders schönes Ahornblatt, eine Libelle mit regenbogenfarbenen Flügeln, eine leere Zigarettenschachtel mit ausländischen Worten. Papa sah sich alles ganz genau an und verstaute es dann in einer Blechdose.
Ma war damals dreiundfünfzig, Papa war zwanzig Jahre älter. Ich war sieben und ihr kleines Wunder. Ich hatte es mir nie anders gewünscht, weil ich es mir anders gar nicht vorstellen konnte.
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Als Papa starb, war ich neun.
Am Abend nach der Beerdigung machte Ma den Anker zu. Sie hängte einen Zettel an die Tür, und wir gingen nicht mehr aus dem Haus. Es waren Sommerferien, ich musste nicht zur Schule, und im Haus gab es Arbeit genug.
So viel Arbeit, dass ich vergaß zu weinen. Eine fiebrige Strömung ging durch alle Räume, unsichtbar, etwas wie Elektrizität, und Ma und ich trieben mit.
„Ein Herz ist so groß wie eine Faust“, sagte sie und legte einen Stapel Seidenpapier auf den Tisch. „Und Papa …“ Sie sah mich an. „Papa heißt …“
„Arnim“, sagte ich. Und da verstand ich.
Wir gingen langsam durch die Zimmer. Wir sammelten alle faustgroßen Dinge ein, die mit A anfingen. Wir schlugen sie in das Seidenpapier und legten sie in die vielen Truhen. Den Anspitzer mit der kleinen Kurbel, Mas Armreifen, den Anzünder fürs Gas. Den Alleskleber, mein Aufziehauto, Aluminiumdosen.
Der Anker war nicht dabei.
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Ma und ich putzten die Zimmer, zogen Laken über die Möbel und wohnten nur noch in Küche und Wohnzimmer. Wir zupften den Stecker aus dem Telefon und hielten die Uhren an. Wir hängten die Spiegel ab. Wir sahen die Vorräte in Kammer und Gefriertruhe durch. Und in den Pausen, wenn wir staubig in der Küche saßen, las sie mir aus dem Tierlexikon vor.
„Welcher Buchstabe?“, fragte sie.
„M“, sagte ich. Wie am Vortag und am Vorvortag. „M wie Marie.“
„Und wie Mila“, sagte sie und lächelte.
Und dann begann sie beim Mauersegler, wo wir aufgehört hatten, und las bis zum Maulwurf.
Jeden Tag kochte sie eins meiner Lieblingsessen – Eierkuchen, Nudeln mit Tomatensoße oder Königsberger Klopse. Wir machten kein elektrisches Licht an.
Draußen brütete die Hitze, Grillen zirpten, der Eierpflaumenbaum roch drückend süß und summte vor Insekten. Wir aber schoben die Vorhänge vor die Fenster, sogar im Tanzsaal, und der Sommer hörte auf zu brennen und floss nur gedämpft und in fadendünnen Streifen herein. Die Dörfler standen ratlos vor dem verschlossenen Anker . Sie riefen nach Ma, doch wir reagierten nicht.
Abends machte Ma nur die Notlampen im Tanzsaal an. Sie legte eine Kassette in den Rekorder, drückte auf Play, und aus allen vier Boxen in den Saalecken kam ein leiser Walzer. Dann goss sie Bohnerwachs auf die Holzbohlen, band Lappen um unsere Füße, und wir fingen an zu tanzen.
Das Licht der Flammen über ihrem Gesicht. Die in Rot getauchte Stirn. Sie wiegte sich in den Hüften und sah jung aus und gelöst. Ich lachte zurück, drehte Pirouetten und warf Kusshände in ein nichtexistierendes Publikum.
„Bist du nicht traurig?“, fragte ich, als sie eines Nachts eine neue Flasche Bohnerwachs aus dem Schrank holte.
„Oh doch“, sagte sie leise. „So sehr,
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