Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
dass es kein Wort dafür gibt.“
„Warum weinst du nie?“
„Weil ich nicht mehr damit aufhören könnte.“
„Darf man denn tanzen, wenn man so traurig ist?“
„Aber ja!“, rief sie. „Es ist ja die einzige Möglichkeit! – Gib mir deinen Fuß, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir haben noch die ganze Nacht zu tun!“ Und ich hob meine Füße, damit sie die Lappen darumwickeln konnte.
Vielleicht war es anders, doch in meiner Erinnerung ist es so gewesen. Womöglich vergingen Wochen so, ich wusste es nicht, weil alle Uhren standen. Aber eines Mittags hupte jemand vor dem Anker . Wir sahen von meinem Zimmer durch einen Spalt im Vorhang nach unten. Es war ein Motorrad, so glänzend und riesig, wie ich noch nie eins gesehen hatte. Wir sahen, wie zwei Fremde abstiegen und die Helme abnahmen. Wir sahen, wie sie laut an die Tür klopften, dann um das Haus herumgingen und durch die Fenster spähten.
„Wer ist das?“, fragte ich und drehte mich zu Ma um. Schweiß stand auf ihrer Oberlippe, sie sah grau aus, eine Hand hatte sie auf die Brust gepresst.
Ich erschrak. „Schick sie weg!“
„Das geht nicht“, sagte sie. „Das sind Ina und Carsten.“
- - -
„Warum hast du uns nichts gesagt, Marie!“
„Warum sollte ich?“ Ma atmete kurz und schnell.
Wir sahen zu, wie Ina zum Herd ging, um einen Kaffee aufzubrühen. Es war kein Anzünder da, und wir schwiegen, als sie sich fragend umdrehte. Da zog sie ein silbernes Feuerzeug aus ihrer Tasche.
Ina war meine Schwester. Aber ich kannte sie überhaupt nicht! Als Papa und Ma von Dresden nach Schönewalde gezogen waren und den Anker übernahmen, war ich ein Baby gewesen. Aber wenn Ina meine Schwester war, wieso war sie nicht mit uns hier hergezogen?
„Ich war ja schon erwachsen“, sagte Ina ausweichend.
Ma sagte: „Ina hatte damals … andere Pläne.“ Mehr nicht. Egal, wie sehr ich bohrte.
Ina war sechsundzwanzig. Warum hatte sie uns nie besucht? Hatten Ma, Papa und Ina sich zerstritten? Irgendwas war seltsam, aber keiner antwortete auf meine Fragen.
- - -
Ina und Carsten kamen mit der geräuschvollen Wucht von Städtern in den Anker , sie füllten das Haus und vertrieben die schwere Stille der letzten Zeit. Ich stand unter Strom. Ich sprudelte wie Limonade und reichte meine Schätze herum: das Tierlexikon und Die Grube und das Pendel von Edgar Allan Poe mit dem Goldschnitt und Papas Zeichnungen. Ma blieb zurückhaltend, sie lächelte kaum. Es war ganz klar, dass irgendwas vorgefallen sein musste, aber ich wusste nicht, was.
Sie waren sehr freundlich, blätterten in den Büchern, stellten mir Fragen, und nach und nach taute Mutter auf. Sie ging wieder in den Garten. Zeigte den beiden die Bohnenbeete. Zeigte den Geräteschuppen, die Pumpe, den Kompost. Sie zeigte das ganze Haus, auch Boden und Keller, und Carsten wackelte am Geländer, klopfte gegen die Wände und die Treppenstufen, entdeckte morsche Stellen. „Ziemlich marode das Ganze“, murmelte er. „Zeit, einiges zu erneuern.“
- - -
Sie wollten eine Weile bleiben. Abends, als Ma und ich einmal allein waren, fragte sie mich: „Gefallen sie dir?“
Ob sie mir gefielen, wusste ich nicht, aber die Vorstellung von Gästen mochte ich.
Ich folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Ich sah zu, wie sie die Laken von den Möbeln nahmen, die Spiegel wieder aufhängten und die Uhren aufzogen. Sie entfernten auch den Zettel von der Tür, und der Anker hatte wieder geöffnet.
Ina war schlank und sehr schick. Sie trug klingelnde Ohrringe, so groß wie Henkel, und Blusen mit riesigen Blüten darauf. So etwas trug hier niemand. Ihr Haar war auch nicht einfach blond, sondern irgendwie silbrig. Eine Farbe, die ich noch nie gesehen hatte und die mich faszinierte, weil es sie in meinem Tuschkasten nicht gab, eine Farbe, die man erst mischen musste: viel Weiß und ein Tupfer Hellbraun und eine klitzekleine Pinselspitze Schwarz. „Das ist Maiblond“, klärte Ina mich auf, als ich fragte. Sie fuhr sich durch Haar. „Aber nur das von L’Oréal ist gut. Alle anderen Maiblonds sehen aus wie Matsch.“
Carsten war groß und schwer. Wenn er auf sein Motorrad stieg, trug er Ledersachen. Ansonsten hatte er schwarze Jeans an. Sein Gürtel hatte eine auffällige Schnalle: ein silberner Adler.
Hin und wieder spürte ich eine Anspannung zwischen ihm und Ina. Nichts Schlimmes. Manchmal schob er sich von hinten an sie heran, flüsterte ihr etwas ins Ohr, zwinkerte mir dabei zu. Ich saß am Tisch, trank meinen Tee
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