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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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sondern auch die in den USA und in Japan. Man konnte sie als Stoppuhr benutzen, als Wecker, und im Dunkeln leuchtete sie. Keiner hatte so eine Uhr. Sie gefiel mir sogar so gut, dass ich sie neben dem Heidekraut in der lockeren Erde auf Papas Grab vergrub. Ich ging nach der Schule oft auf den Friedhof. Ich wanderte herum und sah mir die anderen Gräber an. Manche waren prachtvoll bepflanzt, blühten über und über. Andere lagen unter einer schlichten Efeudecke, deren Ränder akkurat geschnitten waren. Die Gräber im hinteren Teil des Friedhofs hatten gar nichts.
    Eins davon mochte ich. Es war mit Unkraut überwachsen, der Stein war bemoost – niemand kümmerte sich darum. Es lag ganz im Schatten, und immer pflückte ich einen Strauß aus Kamille, Schafgarbe und Kuhblumen und stellte sie ihn einer Vase auf das verwahrloste Grab. Dann setzte ich mich in die Oktobersonne vor Papas Grab und schrieb die ersten und letzten Sätze von Poes Geschichten ab. Die vergrub ich rund um die Uhr.
    Eines Tages wollte ich ihm auch seine Pfeife bringen, aber als ich die Klinke zu seinem Zimmer herunterdrückte, war die Tür zu. Carsten, der die Treppen hochkam und mich am Schloss herumfummeln sah, sagte: „Das ist jetzt mein Arbeitszimmer, Mila. Ich will nicht, dass jemand meine Sachen durcheinander bringt.“
    Papas Zimmer? Es war auch meins! Die Wände dort rochen nach Büchern und Eitempera, nach Papas würzigem Pfeifentabak und dem verbrannten Staub des Diaprojektors. Er hatte in diesem Zimmer nicht nur die Buchhaltung gemacht, sondern manchmal auch gezeichnet. Mit Bleistift oder feinen Pinseln. An einer Wand entlang waren noch die Farbtöpfchen auf altem Zeitungspapier aufgereiht. Die dünnen Pinsel standen in Wassergläsern da. Seit ich denken konnte, hatte ich in diesem Zimmer auf dem Boden gelegen und gelesen, während Papa arbeitete. Umgeben von Edgar-Allan-Poe-Landschaften an den Wänden. Traumlandschaften voller lebender Schatten.
    Ich ging zu Ma. Das erste Mal, seit Carsten und Ina angekommen waren, fragte ich, wann sie wieder fahren würden. Ma schnitt Bohnen und sagte: „Sie bleiben noch ein Weilchen. Carsten will einfach nur einen Raum für sich, Mila.“
    Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Ich hab ein Zimmer, dachte ich, Ma hat eins, Carsten und Ina haben eins zusammen. Drei Zimmer für vier Menschen. Rein mathematisch war das eins zu wenig, also hatte Carsten recht, und ich beschloss, ihm ein Geschenk zu machen, indem ich auf das Zimmer verzichtete.
    Aber dann entdeckte ich, dass Die Grube und das Pendel und das vierbändige Tierlexikon aus meinem Regal verschwunden waren.
    „Sie sind alt und haben einen Wert“, sagte Ina am Küchentisch beim Abendessen. „Wir haben sie weggepackt, für später. Man muss solche Bücher vorsichtig behandeln, man malt vor allem nichts hinein!“
    „Es sind meine“, sagte ich.
    „Es sind Vaters. Sie gehören dir und mir. Ich heb sie für dich auf, bis du groß genug bist.“
    Ich drehte mich zu Ma: „Gib mir einen Schlüssel für mein Zimmer. Bitte.“
    „Marie!“, sagte Carsten, als Ma eine Schublade aufzog.
    „Hört auf!“ Mas Stimme war scharf. „Ihr würdet das auch nicht mögen, wenn jemand in eurem Schlafzimmer rumschnüffelt, oder?“ Sie hielt mir einen plumpen Schlüssel hin. Dann ging sie zurück in den Schankraum zum Tresen. Die Bücher bekam ich nicht zurück.
    Die Wochen vergingen, und es wurde nicht besser. Ich zog mich mehr und mehr in meine eigenen Beschäftigungen zurück. Sammelte Bierflaschen aus den Gebüschen und brachte sie zum Laden. Besuchte den traurigen Ochsen auf seiner Koppel. Ich ging auch auf den Friedhof und malte Papa mit Kreide einen Anker auf den Stein.
    Eines Tages kam Ina vom Friedhof zurück und legte die Armbanduhr auf den Tisch. „Was soll das, Milana! Die Uhr war teuer. Magst du unsere Geschenke nicht?“
    Ich schaute auf die Uhr. „Doch. Ich mag sie.“
    „Das macht sie schon immer“, sagte Ma lächelnd. „Mila vergräbt Schätze.“
    „So ein Blödsinn!“, unterbrach Carsten. „Sich auf dem Friedhof rumtreiben. Uhren vergraben. Was denn noch alles?“
    Ich ignorierte ihn.
    „Das ist doch unsere Uhr?“, fragte Ina.
    „Es ist meine“, sagte ich und wendete mich an Ma. „Oder nicht?“
    Im Schankraum rief jemand „Marie!“, und sie sprang auf und eilte zum Tresen.
    Jetzt frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie in jenem Moment geblieben wäre, wenn sie Carsten weiter ausgelacht und mir Recht gegeben

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