Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
Nähe saßen zwei Helfer auf Bänken. Sie hatten weiße Kapuzen über den Kopf gezogen und trugen gesichtslose Masken.
Als Seregil sich näherte, erhob sich das Orakel auf die Knie und begann langsam hin und her zu wanken. In seinen trüben Augen erglomm ein seltsamer Glanz.
»Komm näher, Suchender«, gebot es mit hoher, heiserer Stimme.
Alec kniete sich vor ihn und warf seine kleine Sammlung auf den Boden. Das Orakel beugte sich eifrig über die Dinge und sprach mit sich selbst, als es sie musterte.
Nach einer Weile verwarf es die Stahlfeder mit einem verächtlichen Grunzen. Dann folgte das Amulett. Es nahm das Plektrum auf und hielt es ans Ohr, als wolle er daran lauschen, dann summte er einige Akkorde aus einem Lied, das Seregil als Kind komponiert und längst vergessen hatte. Das Orakel lächelte in sich gekehrt und steckte das Plektrum unter eine Ecke seines Podests.
Schließlich nahm es das Pergament und das Federstück aus Alecs Pfeil auf. Es hielt jeden der Gegenstände in einer anderen Hand, als wolle es sie gegeneinander abwägen.
Dann zwirbelte es das Federstück zwischen Finger und Daumen, starrte es kurz an und reichte es Seregil, indem es mit seiner Hand Seregils Finger fest um das Federstück schloß.
»Ein Kind der Erde und des Lichts«, flüsterte das Orakel. »Erde und Licht!«
»Wessen Kind?«
Der Mund des Sehers verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Deines jetzt!« erwiderte er und klopfte dabei Seregil hart mit dem Finger gegen die Brust. »Vater, Bruder, Freund und Geliebter!«
Der irre Rhythmus der Worte hallte wider von den Wänden der Kammer, und das Orakel wiederholte sie mit kindlicher Freude immer und immer wieder. Dann, so plötzlich es damit angefangen hatte, verstummte es, und sein breites Lächeln verschwand. Es hielt das Pergament zwischen den Handflächen und wurde plötzlich steif wie ein Epileptiker. Die Stille um sie wurde greifbar. Sie blieb viele Minuten ungebrochen.
»Tod!« Es war kaum ein Flüstern, aber das Orakel wiederholte es noch einmal lauter. »Tod! Tod und Leben im Tod. Der Verschlinger des Todes gebiert Monstren. Achte auf den Bewahrer! Achte auf die Vorhut und den Pfeil!«
Es war kein Wahn in den Augen des Orakels, als es Seregil das Pergament zurückgab. »Verbrenne es und laß es sein«, warnte es düster und drückte es gegen Seregils Brust. »Gehorche Nysander!«
Die mystische Klarheit versiegte so rasch, wie sie gekommen war und ließ das Orakel als leere Hülle zurück. Es kroch zurück zum Podest und holte das Plektrum hervor. Der Klang zufriedenen Summens begleitete Seregil auf seinem Weg zurück.
Als er zum Hahn zurückritt, fragte sich Seregil, ob er nun überhaupt weitergekommen war. Es verwirrte ihn, daß das Orakel Alec erwähnt hatte, obwohl die Botschaft klar genug war, vor allem der Hinweis auf Erde und Licht. Und der kleine Reim, ›Vater‹ und ›Bruder‹, mußte sinnbildlich gemeint sein, denn eine Blutsverwandtschaft war offensichtlich nicht möglich. Aber ›Freund‹ bedurfte keiner Erklärung.
Es blieb noch der ›Geliebte‹. Er verdrängte das Bild. Offensichtlich waren Orakel nicht unfehlbar.
Er schüttelte den Gedanken ab und dachte darüber nach, wie sehr es ihn beunruhigte, was das Orakel über das Symbol gesagt hatte. Wie konnte er jedoch auf etwas achten, das er gar nicht kannte? Wer war der Verschlinger des Todes oder der Bewahrer? Um welche Vorhut handelte es sich und um welchen Pfeil?
Unter anderen Umständen hätte er nun Nysander aufgesucht, aber das stand nun außer Frage. Frustriert fluchte er, als er sich durch die Küchentür des Hahns einließ und nach oben ging.
Eine Lampe brannte noch auf dem Kaminsims, aber das Feuer war ausgegangen. Es war kalt im Raum.
»Verdammt, verdammt, verdammt!« preßte er hervor, als er zum Kamin ging und Holz auf die Glut legte. Als die Flammen wieder hochzüngelten, fiel sein Blick auf Alec, der auf der schmalen Couch hinter ihm schlief.
Er lag zusammengerollt und hatte den Kopf auf einen Arm gebettet, der andere hing auf dem Boden und war blaß und kalt. Ruetha lag gegen ihn gedrückt.
Was tut er denn hier draußen? Er ärgerte sich darüber, daß Alec zu schüchtern war, es sich in seinem Bett bequem zu machen. Er deckte den Jungen mit seinem Umhang zu und entdeckte überrascht getrocknete Tränen auf seiner Wange.
Waren es Gedanken an seinen Vater gewesen? fragte er sich verwundert und fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, daß Alec geweint hatte.
Er zog
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