Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
sich in sein Zimmer zurück, entkleidete sich im Dunkeln und schlüpfte dankbar unter die frischen Decken.
Das Einschlafen fiel ihm jedoch nicht leicht. Er lag in der Dunkelheit, rieb abwesend an der durch Nysanders Zauber verborgenen Narbe und dachte darüber nach, daß sein Leben in größere Unordnung geraten war, als das üblicherweise der Fall war.
21
Schwerter und gutes Benehmen
Seregil verdrängte die geheimnisvolle Offenbarung des Orakels und stürzte sich zurück ins bunte Leben Rhíminees.
Die Nachricht, die Rhíminee-Katze sei zurückgekehrt, verbreitete sich rasch, und viele Adlige hatten geheime Aufträge für die Katze. Außerdem galt es auch, die Nachforschungen für Nysander zu erledigen, so daß er die meisten Nächte über abwesend war.
Alec war nicht begeistert darüber, so oft alleingelassen zu werden, aber Seregil war noch nicht bereit, den Jungen den Gefahren der Stadt auszusetzen. Statt dessen tat er sein Bestes, alles bei Tag wiedergutzumachen. Er führte ihm Dinge vor, die Alec noch nie gesehen oder erlebt hatte, und probte mit ihm die unzähligen Fertigkeiten, die man in ihrem unsicheren Gewerbe beherrschen mußte, um zu überleben.
Vordringlich war es, Alec im Schwertkampf zu schulen, und so verbrachten sie die meiste Zeit am Morgen damit, im Wohnzimmer oben zu üben. Mit bloßen Füße huschten sie leise über die Binsenmatten, als sie sich gegenseitig langsam umkreisten und mit hölzernen Übungsschwertern die Grundbegriffe des Schwertkampfes probten.
Unglücklicherweise erwiesen sich diese Lektionen als die anstrengendsten und zermürbendsten. Alec war beinahe schon zu alt, um jetzt erst mit dem Schwertkampf zu beginnen, und so hart der Junge auch arbeitete, die Fortschritte stellten sich nur quälend langsam ein.
Die einzigen anderen ›Unterrichtsfächer‹, auf die Seregil größten Wert legte, waren Lesen und Schlösserknacken. Ansonsten lehrte er ihn einfach das, was ihm der Augenblick eingab.
An einem Tag saßen sie stundenlang über einigen Schriftrollen, die Aufschluß über den Stammbaum der königlichen Familie gaben, oder sie kramten in den Juwelen aus dem Kästchen auf dem Kamin herum. Alec lauschte mit großen Augen, wenn Seregil ihm ihren Wert erklärte. An anderen Tagen schlenderten sie verkleidet durch die Straßen und übten schließlich mit einer Gruppe von Gauklern, denen Seregil als der ›Wandernde Kall‹ bekannt war. In auffallend bunte Lumpen gekleidet und mit schmutzigem Gesicht beobachtete Alec voller Vergnügen, wie Seregil jonglierte, auf dem Seil tanzte und den Zuschauern Grimassen schnitt. Auch Alecs eigene erste Bemühungen, die ziemlich ungeschickt ausfielen, wurden vom Publikum als närrische Beigabe beklatscht.
Oft aber gingen sie einfach in verwirrend verwinkelten Straßen der Stadt spazieren und erforschten die verschiedenen Stadtteile und ihre Märkte. Seregil hatte in kaum benutzten Speichern und Schuppen über die ganze Stadt verteilt kleine Bündel mit notwendigen Dingen versteckt, für den Fall, daß er einmal eilig untertauchen mußte.
Ganz langsam führte Seregil Alec in etwas heimlichere Unternehmungen ein – ein kleiner, einfacher Einbruch beispielsweise –, oder sie spielten, wie man der Hafenwache in den kleinen Gäßchen der Unteren Stadt am besten entkam.
Als die Wochen so vergingen, wurde es Alec immer bewußter, daß er sich – abgesehen von immer seltener werdenden Anfällen moralischer Zweifel – noch nie so glücklich gefühlt hatte. Die dunklen Tage in Mycena verblaßten schnell zu bloßen unangenehmen Erinnerungen, und Seregil, wieder gesund und in gewohnter Umgebung, war endlich wieder die schillernde Gestalt mit dem trockenen Humor, die ihn anfangs so beeindruckt hatte.
Obwohl die diversen Beschäftigungen stets bis tief in die Nacht hinein dauerten, fiel es Alec schwer, länger als bis Sonnenaufgang zu schlafen. Seregil war zu dieser Stunde nur selten einmal wach, und so schlüpfte er leise hinunter und nahm sein Frühstück mit der Familie der Wirtin ein.
Er fühlte sich um diese Zeit wohl in der Küche. Das Mißtrauen, das Tyris in jener ersten Nacht Alec gegenüber gehegt hatte, war wie weggeblasen. Mittlerweile hatte sie offensichtlich Gefallen an ihm gefunden und ließ ihn spüren, daß er in dieser Runde, die sich jeden Morgen um den bleich gescheuerten Eichentisch versammelte, willkommen war.
Die Familie genoß ganz offensichtlich die kurze Zeit des Friedens vor dem Beginn der eigentlichen
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