Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten

Titel: Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
Vom Netzwerk:
junger Initianden ihre religiösen Dispute mit Fäusten austrugen. Ebensowenig Anstoß wurde an den Priestern genommen, die ihr Amt dazu mißbrauchten, ihre eigene Börse zu füllen, oder daß die kleinen Tempel der geringeren Gottheiten und fremde Kulte sich am Rand des Platzes angesiedelt hatten. Der heilige Platz mit seinen vier Tempeln formte nach wie vor das Herz jeder skalanischen Stadt und jedes Dorfes; selbst die kleinste Siedlung besaß einen kleinen Platz mit vier Schreinen. Die Anbetung der Vier gab Skala seit Jahrhunderten innere Harmonie und Kraft.
    Seregil überquerte den Platz und stieg die breiten Stufen zu Illiors weißem Tempel empor. In der Säulenhalle zog er die Stiefel aus. Selbst zu dieser späten Stunde stand ein Dutzend weiterer Paare säuberlich aufgereiht entlang der Wand.
    Ein Mädchen im weißen Gewand des Tempels unterdrückte ein Gähnen, als sie ihm die silberne Tempelmaske überreichte. Er nahm sie entgegen und blickte auf ihre Handfläche. Dort waren mit schwarzer Tinte die Umrisse des runden Drachenemblems eintätowiert, das Zeichen der Novizen. Mit jeder Prüfung, die sie auf ihrem Weg zur Priesterwürde zu bestehen hatte, würde eine weitere Farbe dem Emblem hinzugefügt – zwölf Farben insgesamt und Linien aus Silber und Gold.
    »Trage das Licht«, sagte sie und kämpfte gegen ein weiteres Gähnen an.
    »Es gibt keine Finsternis«, erwiderte Seregil. Er legte die Maske an und begab sich in den Meditationskreis.
    Alabastersäulen säumten den runden Raum, dazwischen stieg von Kohlenbecken der süße, betäubende Rauch der Traumkräuter auf. Geringe Mengen wurden hier verbrannt – gerade genug, um den Geist für die Meditation zu befreien. Wer seinen Geist auf Reisen schicken wollte oder in Träumen die Zukunft erkunden, verbrachte hier mehrere Tage des Fastens und der Reinigung, ehe er die kleinen Zellen hinter den Säulen betrat. Auch Seregil war gelegentlich hierhergekommen, aber nach seinen jüngsten Erfahrungen hatte er kein großes Verlangen nach Träumen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob er ein einziges Mal geträumt hatte, seit er ins Orëska zurückgekehrt war.
    Andere Bittsteller, deren Gesichter ebenfalls hinter silbernen Masken verborgen waren, saßen mit verschränkten Beinen auf dem Marmorboden in der Mitte des Tempels. Andere lagen auf dem Rücken und meditierten mit Hilfe verschiedener Symbole, die auf die Kuppel über ihnen gemalt waren: der Magier, die Fruchtbare Königin, der Drache, das Wolkenauge, die Mondsichel.
    Seregil beugte sich über eines der Kohlenbecken und atmete den süßen Rauch. Dann setzte er sich und wartete darauf, daß einer der Altardiener auf ihn aufmerksam wurde. Der Boden war poliert, und wenn er hinabblickte, ruhte sein Blick auf dem Spiegelbild des Wolkenauges – Magie, Geheimnisse, verborgene Kräfte, die Straße zum Wahnsinn. Er nahm das Symbol an und meditierte mit halb geschlossenen Augen.
    Anstelle der Fülle von Gedanken, erfaßte ihn das schwindelnde Gefühl der Höhenangst. Der glatte, schwarze Boden tat sich plötzlich vor ihm auf. Die Illusion war so überwältigend, daß er die Hände gegen den Boden preßte und den Blick angestrengt auf eine der Säulen richtete. Leise Schritte näherten sich ihm von hinten.
    »Was willst du von Illior?« fragte der Maskierte. Die zum Gruß ausgestreckte Hand zeigte das grün, gelb und blaue Muster eines Initianden der dritten Kammer.
    »Ich will ein Dankopfer darbringen«, erwiderte Seregil und stand auf, um ihm eine prall gefüllte Börse zu übergeben. »Und ich suche Wissen in der Goldenen Kammer.«
    Der Altardiener nahm die Börse entgegen und führte ihn durch die Säulen in ein Audienzzimmer im hinteren Teil des Tempels. Mit einer rituell vorgeschriebenen Geste bedeutete er Seregil, auf einer kleinen Bank in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Hinter dem Podium hing ein wundervoller Wandbehang zwischen zwei mächtigen Säulen, die Säulen der Erleuchtung und des Wahnsinns. Der Wandbehang war in den zwölf rituellen Farben bestickt und zeigte die Fruchtbare Königin, die ihren Streitwagen durch die Wolken des Nachthimmels lenkte.
    Eine Ecke des Behanges wurde zurückgezogen und eine Gestalt in langem Gewand betrat den Raum. Trotz der goldenen Maske, die das Gesicht bedeckte, erkannte Seregil an der Fülle grauen Haars, das über die schmächtigen Schultern fiel, Orphyria ä Malani, die älteste der Hohepriesterinnen und Großtante Königin Idrilains

Weitere Kostenlose Bücher