Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
Silbermondstraße. Um diese Zeit waren die Straßen ruhig, und ihm begegnete nur ein Reiter, der nahe Bariens Haus eilig durch die Straße galoppierte, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster schallte laut durch die Nacht. Der Reiter nahm das laute Geklapper mit sich, und Nysander konnte das verärgerte Murren der Wächter am Palasttor voraus hören.
Es überraschte ihn, Bariens Tor verschlossen vorzufinden. Die Laterne über dem Tor war gelöscht. Der Vizeregent teilte Nysanders Vorliebe für die späten Stunden des Tages und zog sich selten vor Mitternacht zurück. Nysander saß ab und klopfte am Tor, bis der Wachmann an der Pforte erschien.
»Guten Abend, Lord Nysander«, grüßte der Mann, der daran gewöhnt war, den Magier zu solch späten Stunden einzulassen.
»Guten Abend, Quil. Ich bin gekommen, um den Vizeregenten zu sprechen.«
»Ich bedaure, Mylord, aber Lord Barien schläft bereits. Er befahl strikt, heute niemanden einzulassen außer der Königin selbst. Er schien größten Wert darauf zu legen. Und Euch kann ich es wohl anvertrauen, Sir, der Kämmerer sagte, der Herr sah nicht gut aus, als er sich zurückzog. Er war aus gewesen zum Nachtmahl, kam aber zeitig zurück und wirkte blaß.«
»Ich verstehe«, sagte Nysander. »Der arme Knabe, hoffentlich hat er nichts Unrechtes gegessen. Wo nahm er sein Nachtmahl ein?«
»Der Kämmerer sagte es nicht, Mylord, nur, daß Lord Barien unter keinen Umständen gestört werden dürfe.«
»Dann muß ich wohl morgen wiederkommen. Richte deinem Herrn bitte meine Grüße aus.«
Nysander ritt die Silbermondstraße weiter entlang, bis er an einen nahe gelegenen Brunnen kam, dort setzte er sich an den Rand und sandte sein magisches Auge zu Bariens Villa.
Der Vizeregent lag wirklich in seinem Bett und blätterte unruhig in einem kleinen Buch, das auf der Bettdecke lag. Nysander erkannte das Buch, und Traurigkeit überkam ihn; es war ein Band Gedichte fahrender Sänger, den er selbst dem Vizeregenten vor einigen Jahren geschenkt hatte. Schließlich schien Barien eine Seite gefunden zu haben, auf der nun sein Blick ruhte. Nysander änderte den Blickwinkel und las seinerseits die Seite.
›Brich, Edles Herz. Verglüh’ zu Asche da deine Ehre beschmutzt ward‹, zitierte Nysander leise, als er eine Zeile wiedererkannte. Kurz, aber taktvoll, berührte er Bariens Gedanken und fand dort eine tiefe Melancholie, nichts sonst.
Es wäre ihm ein leichtes gewesen, sich in Bariens Schlafgemach zu translokieren, aber Nysander entschied dagegen. Weder Bariens gegenwärtige Stimmung noch seine gegenwärtige Beschäftigung rechtfertigten ein so unverschämtes Eindringen. Morgen war gewiß noch früh genug.
Seregil und die anderen verbrachten eine ungemütliche Nacht unter den Bäumen und erwachten am nächsten Morgen, als Nysanders blaue Nachrichtenkugel über Seregils Kopf schwebte. Er fuhr mit der Hand durch die Kugel und befreite so die Worte, die an ihn gerichtet waren.
»Bringt dort in Erfahrung, was immer ihr könnt, aber kehrt geschwind zurück in die Stadt. Dort begebt euch sogleich zu mir.«
Obwohl die Nachrichtenkugeln ihre Botschaften stets in nahezu leidenschaftslosem Tonfall überbrachten, war es nicht zu überhören, daß die körperlose Stimme des Magiers angespannt klang.
»Was, glaubt ihr, hat das zu bedeuten?« gähnte Micum und bürstete mit den Fingern feuchte Blätter von seinem Umhang.
»Er muß etwas von Barien erfahren haben«, meinte Seregil. »Laßt uns sehen, was wir hier herausfinden können, und dann nichts wie zurück.«
Sie kehrten noch einmal auf ihren Aussichtsposten in der Fichte zurück und stellten fest, daß sich auf dem Burghof nicht viel Neues getan hatte. Jetzt bei Tageslicht jedoch wurde der Grund dafür, daß einer der Türme kein Feuer beherbergt hatte, offensichtlich.
Der Turm, der die Schlucht überragte, war nur noch eine Ruine. Eine Seite seines flachen Daches war vom Blitz getroffen worden, und Wind und Wetter gelangten ungehindert ins Innere. Anhand der verwitterten Steine und der nun winterbraunen Ranken einer Kletterpflanze konnte man erkennen, daß der Turm bereits seit einigen Jahren dem Verfall preisgegeben war. Neben der sonst so makellosen Symmetrie des restlichen Bauwerks wirkte er wie ein fauler Zahn in einem sonst gesunden Gebiß.
Sie warteten bis zum frühen Vormittag, dann fuhren sie mit ihrem Plan fort. Alec tauschte die Orëska-Livree mit den Kleidern eines einfachen Dieners, dann machte er sich auf den
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