Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
waren die – die Dinge im Wasser, die sich plötzlich bewegten. Gliedmaßen streckten sich und zuckten, die Gesichter verzerrten sich zu Fratzen.«
Er hörte ein leises Stöhnen von Alec; für einen Dalnaer gab es nichts Schlimmeres als einen entweihten Leichnam. Seregil holte zitternd Luft und zwang sich, weiterzuerzählen.
»Dann schlingerte das Schiff, und ich wußte, daß etwas über das zerfetzte Segel heraufkletterte. Ich konnte es nicht erkennen, aber das Schiff schaukelte und schlingerte wie ein kleines Fischerboot. Ich erwartete das Ding an der Reling. Was immer es war, ich wußte, daß etwas unbeschreiblich Finsteres an Bord kam, dessen Anblick schon mein Ende bedeuten könnte. Und inmitten meiner Angst schrie ein Teil tief in mir, daß ich mich an etwas schrecklich Wichtiges erinnern sollte. Ich wußte nicht, ob das meine Rettung wäre, aber ich mußte mich unbedingt daran erinnern, bevor ich starb. Dann erwachte ich.«
Ihm gelang ein kleines Lachen, mit dem er das Grauen vertreiben wollte. »Nun, das klingt wohl recht albern, wenn man es erzählt.«
»Nein, das war ein übler Alptraum!« Alec schauderte. »Und du siehst noch immer nicht viel besser aus. Glaubst du, daß du noch ein wenig Schlaf finden kannst?«
Seregil blickte auf das heller werdende Licht vor dem Bullauge. »Nein, es ist schon fast Morgen. Du solltest aber wieder zu Bett gehen. Es wäre sinnlos, wenn wir uns beide wegen nichts um den Schlaf bringen würden.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, du hattest recht damit, daß es leichter wird, wenn man es erzählt. Die Erinnerung verblaßt bereits«, log Seregil. »Es geht mir schon wieder etwas besser.«
Als Seregil an diesem Morgen den Tagesgeschäften nachging, begann der Nachtmahr tatsächlich zu verblassen, aber ein starkes Gefühl der Unsicherheit blieb. Auch waren die Kopfschmerzen wieder gekommen, die ihn reizbar machten und sich ihm auf den Magen schlugen. Um die Mittagszeit fühlte er sich so schlecht, daß er wieder seinen Platz auf dem Vorschiff einnahm, in der Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden. Alec schien zu fühlen, daß sein Freund Ruhe brauchte, aber der Kapitän erwies sich als hartnäckig.
In Verkleidung zu reisen brachte stets Probleme mit sich, aber Seregil fühlte sich durch seine gegenwärtige Rolle besonders eingeschränkt. Rhals Aufdringlichkeit war mehr, als er im Augenblick verkraften konnte. Der Kapitän fand oft Gelegenheit, der Lady zu Gefallen zu sein, er zeigte ihr Sehenswertes am Ufer, erkundigte sich nach ihrem Befinden und schlug zahllose Zerstreuungen vor für sie und ihren Junker. Er nahm ihre Entschuldigungen hin, bestand aber auf seiner Einladung zum Nachtmahl.
Nach der mittäglichen Mahlzeit verabschiedete sich Seregil und zog sich in seine Kabine zurück, um dort den Nachmittag zu verschlafen. Als Alec ihn am Abend weckte, fühlte er sich bedeutend besser.
»Ich bedauere, daß ich dich dort oben so allein gelassen habe«, entschuldigte er sich, als Alec an der komplizierten Verschnürung seines Gewandes arbeitete. »Morgen werden wir versuchen, ein wenig zu üben. Die Lady Gwethelyn kann sich in ihre Kabine zurückziehen, ebenso ihr Junker, der ihr aufwarten soll. Auf Fechtübungen müssen wir wohl verzichten, aber uns wird gewiß etwas einfallen. Zum Beispiel könnten wir deine Kenntnisse in der Zeichensprache vertiefen oder weitere Tricks lernen. Diese Dinge mußt du stets üben, sonst verlernst du alles wieder.«
Er zog sich ein frisches Gewand an. Alec half ihm mit der Verschnürung, dann drapierte er sich sorgfältig einen Schleier über das Haar, der ihm schmeichelnd über die Schultern fiel. Neben dem Granatring schmückte er sich mit einer massiven Kette aus gedrehtem Gold und Ohrringen aus großen Perlen.
»Bei Illiors Fingern, ich bin halb verhungert«, sagte er, als er fertig war. »Ich hoffe, daß es mir gelingt, damenhaft zu speisen. Was gibt es denn zu essen, Alec?«
»Es gibt gesottenes Geflügel. Ich habe die Vögel für den Koch ausgenommen, während du schliefst.« Er hielt kurz inne und fügte dann grinsend hinzu. »Soviel ich heute gehört habe, ist deine Verkleidung recht wirkungsvoll.«
»Oh, was haben sie gesagt?«
»Der Koch meint, daß der Kapitän noch nie einer Frau so verfallen war. Ein paar Wetten laufen, ob er deine Gunst erringen wird, ehe wir in Nanta eintreffen.«
»Recht unwahrscheinlich. Ich verlasse mich darauf, daß du meine Ehre verteidigst, bis wir wieder sicher am Ufer sind, Junker
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