Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
… Ich habe weitaus öfter Schrecklicheres gesehen und mir kaum etwas dabei gedacht. Ich habe viele Gesichter, Alec, aber ich bin kein Feigling! Was immer es ist, ich fürchte, es wird schlimmer werden, ehe es nachläßt – falls es je wieder nachläßt.« Gequält fingerte er an der Holzscheibe, die an um seinem Hals hing. »Wenn du ohne mich weiter ziehen möchtest, dann verstehe ich das. Du schuldest mir nichts.«
»Vielleicht«, erwiderte Alec und versuchte, nicht darüber nachzudenken, warum er plötzlich Angst empfand. »Aber ich würde mich nicht wohl fühlen dabei. Ich bleibe.«
»Nun, ich würde es nicht von dir verlangen, aber ich danke dir.« Er umklammerte die Beine mit den Armen und ließ den Kopf auf die Knie sinken.
Alec wollte sich in seine Nische zurückziehen, als er spürte, wie Seregil von einem erneuten Anfall geschüttelt wurde. Er lehnte sich gegen die Wand und wachte still an seiner Seite bis tief hinein in die Nacht.
10
Es geht bergab mit Seregil
Kurz vor Morgengrauen erwachte Seregil aus einem neuen Alptraum. Er stieß das Fenster auf, zog sich rasch an, dann setzte er sich und sah zu, wie der Himmel allmählich heller wurde. Der Schrecken des Traumes verebbte, aber der Kopfschmerz kündigte sich wieder an. Nach einer Weile hörte er Alec hinter dem Vorhang.
»Du hattest wieder eine schlechte Nacht«, stellte der Junge fest.
»Komm, halte mir bitte den Spiegel.« Seregil öffnete seine Tasche mit den Schminkutensilien und begann, sich zu schminken. Dunkle Ringe unter den Augen waren dick wie Blutergüsse, und die Hand hielt den Spiegel nicht mehr so ruhig wie noch eine Woche zuvor.
»Ich denke, die Lady Gwethelyn wird heute weitgehend in ihrer Kabine bleiben. Ich bin nicht in der Lage, mich heute mit dem Kapitän auseinanderzusetzen«, sagte er, als er sein fertig geschminktes Gesicht im Spiegel betrachtete. »Abgesehen davon bietet es uns Gelegenheit, mit deiner Ausbildung fortzufahren. Es wird höchste Zeit, daß du lesen lernst. In unserer Zunft ist das erforderlich.«
»Ist es schwer?«
»Du hast bisher alles gelernt, was ich von dir erwartet habe«, versicherte ihm Seregil. »Am Anfang kommt eine Menge auf dich zu, aber wenn du erst die Buchstaben kennst und ihren Klang, dann wird es dir leichtfallen. Laß uns aber zunächst an Bord spazierengehen. Ich könnte etwas frische Luft gebrauchen vor dem Frühstück. Wenn der Kapitän sieht, wie elend ich aussehe, läßt er uns vielleicht in Ruhe.«
Schwerer, nasser Schnee fiel an diesem Morgen dicht an dicht und dämpfte jedes Geräusch an Bord. Man konnte nicht weiter schauen als bis zum Bug des Schiffes. Überall begann sich eine Schneedecke zu bilden, und knöcheltiefer Matsch machte es fast unmöglich, sich an Deck zu bewegen. Kapitän Rhal stand am Mast und brüllte mehreren Männern gleichzeitig Befehle zu.
»Skywake soll sie in der Mitte des Flusses halten, wenn er erkennen kann, wo das ist!« rief er einem Matrosen zu und deutete mit dem Daumen in Richtung des Steuermannes. »Senkt das Lot, bis wir wieder klare Sicht haben. Wenn wir uns in der Mitte der Fahrrinne halten, ist die Gefahr aufzulaufen geringer. Beim Alten Seemann, das bißchen Wind fällt ja nicht einmal einer Jungfrau … Oh, guten Morgen, Mylady. Ich hoffe, Ihr fühlt Euch heute besser.«
»Die Bewegung des Schiffes tut mir nicht gut«, erwiderte Seregil und stützte sich auf Alecs Arm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich werde den Rest der Reise in meiner Kabine verbringen müssen.«
»O ja, das Wetter ist wirklich übel, und es kommt verdammt früh dieses Jahr so weit im Süden. Wir können von Glück sagen, wenn wir Torburn morgen nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Es wird ein langer Tag werden, deshalb entschuldigt mich bitte – Ciris, warum holst du deiner Herrin nicht etwas heißen Wein aus der Kombüse?«
Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg ans Ruder.
»Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll oder beleidigt!« scherzte Seregil leise. »Richte uns ein Frühstück. Ich komme gleich nach.«
Trotz der Visionen des vorangegangenen Abends war Seregil nicht auf das vorbereitet, was er an diesem Morgen in seinem Haferbrei erblickte. Er schob die Schale von sich und zog sich auf seine Koje zurück.
Alec war besorgt. »Ist es schon wieder geschehen?«
Seregil nickte, machte sich jedoch nicht die Mühe, die glitschige Masse zu beschreiben, die er anstelle des Breis gesehen hatte, oder den Gestank, der ihm
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