Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
getötet und dann eine ganze Weile in der Hoffnung gewartet haben, wir würden auftauchen. Unter einem Tisch habe ich sein Schwert gefunden. Er muß ihnen einen beherzten Kampf geliefert haben, bevor sie ihn überwältigen konnten; an der Klinge hat Blut geklebt.« Scharf sog er die Luft ein und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Ich habe den Dolch Nysander gezeigt, als ich heute morgen herkam. Ich glaube, er weiß, wohin sie unterwegs sind. Er hat noch versucht, es mir zu sagen, als er plötzlich bewußtlos wurde, aber ich glaube, ich bin dahintergekommen.«
Seregil zog eine Landkarte aus dem unordentlichen Stapel neben dem Stuhl. Als er sie auf dem Boden zwischen ihnen ausbreitete, erkannte Micum den Umriß der plenimaranischen Halbinsel; die verschnörkelte Schrift auf der Karte vermochte er allerdings nicht zu entziffern.
»Was ist das? Ich kann gar nichts davon lesen.«
»Nysanders eigenes Schreibsystem«, erklärte Seregil. »Ich habe es damals in meinen Lehrlingstagen gelernt. Bevor Nysander ohnmächtig wurde, hat er von einem Tempel in Plenimar gesprochen, der sich unter ›der Säule des Himmels‹ befinden soll. Zunächst dachte ich, es müßte sich um irgendein Monument handeln und hatte wenig Hoffnung, es zu finden. Aber schau mal.« Er deutete auf eine Stelle an der Nordwestküste, unmittelbar oberhalb der Landenge. »Siehst du das kleine Kreuz da? Es kennzeichnet die Lage des Berges Kythes, nur ist er hier ›Yóthgash-horagh‹ benannt.«
Seregil blickte Micum an; allmählich erwachte der alte Feuereifer zu neuem Leben.
»In der alten Sprache Plenimars bedeutet das Himmelsäulenberg.«
»Unter der Säule des Himmels.« Neuerlich betrachtete Micum die Karte. »Dir ist aber schon bewußt, daß dieser Ort weit hinter den feindlichen Linien liegt, oder?«
»Ja, aber wenn ich richtig verstanden habe, was Nysander mir sagen wollte, ist es unumgänglich, daß wir Vier zu einer bestimmten Zeit dort sind. ›Ein bestimmter Ort, zu einer bestimmten Zeit‹, hat er gesagt, und ›synodisch‹.«
»Was soll das denn heißen?«
Stirnrunzelnd schüttelte Seregil den Kopf. »Keine Ahnung, aber es muß wichtig sein.«
»Und das alles hat mit eurer verfluchten Prophezeiung zu tun, nicht wahr?« fragte Micum mit finsterer Miene.
»Aber wozu in aller Welt haben die Plenimaraner die Orëska angegriffen?«
»Sie waren hinter der hölzernen Münze her, die ich Mardus damals in Wolde gestohlen habe. Die und mindestens ein weiterer für die Plenimaraner wichtiger Gegenstand waren in Nysanders Besitz. Er hatte beides im untersten Kellergewölbe versteckt. Dort hat auch der ärgste Kampf der Zauberer stattgefunden.«
Seregil erhob sich, strich die schlecht sitzenden Kleider glatt und ging auf die Tür zu. »Komm mit, ich will nachschauen, ob Nysander schon wieder bei Bewußtsein ist. Und dann will ich mir den Schaden unten ansehen.«
Micum folgte ihm, während er über Mardus nachgrübelte, und über den Umstand, daß sie Alec verschleppt hatten, anstatt ihn auf der Stelle zu töten. Er wußte, daß dies irgendwie mit dem in Zusammenhang stand, was er im Fen-Gebirge gefunden hatte, doch es schien weiser, solche Gedanken vorerst aus dem Kopf zu verbannen.
Valerius trat ihnen an der Schlafzimmertür entgegen.
»Na also, du siehst schon viel besser aus«, stellte er fest und musterte Seregil mit billigendem Blick. »Gerötete Augen, gerötete Wangen. Ordentlich ausweinen, genau das hat dir gefehlt. Die Sache mit der Herberge ist eine verfluchte Schande. Das Kind ist übrigens wohlauf. Ich habe es vorübergehend in den Tempel bringen lassen. Ich nehme an, von den anderen erzählst du mir, sobald du dazu bereit bist, oder?«
Seregil nickte. »Darf ich jetzt zu Nysander?«
»Er schläft noch. Magyana und Darbia beobachten ihn. Sie lassen uns rufen, sobald sein Zustand sich ändert.«
»Wann, glaubst du, wird er aufwachen?« erkundigte sich Micum.
»Schwer zu sagen. Diese alten Magier sind seltsame Wesen; er kämpft auf seine ganz eigene Weise um sein Leben.« Valerius zog die Augenbrauen hoch und wandte sich an Seregil. »Das von Thero hast du wohl noch nicht gehört, oder?«
»Was ist mit Thero?« fragte Seregil scharf.
»Er ist verschwunden«, schnaubte der Drysier. »Wir haben jeden Stein umgedreht. Er ist weder unter den Toten, noch irgendwo im Haus oder in der Stadt. Meiner Meinung nach steckt er bei der Rotte, die uns letzte Nacht überfallen hat.«
»Dieser verräterische Hund!« knurrte Seregil. »Er
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