Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
heraufdrangen, das Gefühl völliger Hilflosigkeit. Die wenigen Male, die er von schöneren Zeiten mit Seregil oder seinem Vater träumte, ließen alles nur noch schlimmer erscheinen, wenn er erwachte. Sooft er wach in der Dunkelheit lag, versuchte er, sich den Geruch ihrer Zimmer im Jungen Hahn oder die Farbe von Bekas Augen ins Gedächtnis zu rufen. Meistens jedoch dachte er an Seregil und verfluchte Mardus für die Saat der Zweifel, die er in ihm gestreut hatte.
»Er hat mich nicht aufgegeben. Das hat er nicht!« flüsterte er eines Nachts in die Finsternis, als seine Hoffnung einen Tiefpunkt erreicht hatte. Er zwang sich, an das Grinsen seines Freundes zu denken, wenn Alec eine neue Fähigkeit erlernt hatte; an das Vergnügen, das es Seregil bereitete, Thero zu hänseln; an den Griff von Seregils Hand, als er ihn nach dem Hinterhalt bei Cirna vom Klippenrand zurückgezogen hatte.
Und daran, wie er in jener Nacht in der Lichterstraße ausgesehen hatte. Plötzlich erinnerte Alec sich an das schuldbewußte Behagen, das er an jenem Abend und auch später wieder verspürt hatte, wenn Seregil ihm beiläufig die Hand auf die Schulter oder den Nacken legte …
Unwillkürlich ließ ihm die Erinnerung an jene Berührungen Hitze ins Gesicht schießen. Es war zu schmerzvoll, darüber nachzugrübeln, nun, da er sie nie wieder spüren würde.
»Hör auf damit!« schalt er sich laut. »Er kann immer noch kommen. Vielleicht ist er in diesem Augenblick hinter uns her!«
Aber nicht einmal Micum vermochte der Fährte eines Schiffes über das Wasser zu folgen.
Schließlich ergab sich Alec seinem Elend, wickelte sich in die dünne Decke und versuchte, sich Bruchteilen von Unterhaltungen zu entsinnen, die Seregil und er geführt hatten, einfach, um eine freundliche Stimme im Kopf zu haben. In jener Nacht träumte er von seinem Freund, obschon er sich an keine Einzelheiten erinnern konnte, als er erwachte. Am nächsten Morgen, während er auf der Pritsche hockte und nachdenklich sein Frühstück kaute, rief er sich die zahlreichen Lektionen ins Gedächtnis, die Seregil ihm im Verlauf der langen Monate ihrer Bekanntschaft eingetrichtert hatte.
Alle an Bord betrachteten ihn als machtlos; abgesehen von dem besonderen Schicksal, das Mardus ihm zugedacht hatte, galt er als unbedeutender Gefangener. Es war an der Zeit, die Furcht zu verdrängen und dem, was um ihn herum geschah, Aufmerksamkeit zu schenken – richtige Aufmerksamkeit. Danach mußte er anfangen, Fragen zu stellen, unscheinbare, belanglose Fragen zunächst, um die Lage auszuloten. Schließlich würde er auch nicht schneller sterben, wenn er es zumindest versuchte.
Leben und lernen, flüsterte Seregils Stimme anerkennend in seinem Hinterkopf.
Die neue Vorsicht der Soldaten gegenüber Alec gestaltete es ein wenig einfacher, mit ihnen zu reden, doch bald mußte der Junge feststellen, daß für sie einzig ihre unerschütterliche Treue zu Mardus zählte, wodurch jeder Versuch, sich mit ihnen anzufreunden, sinnlos wurde. Zumindest aber erfuhr er, daß sie zu einem Ort an der nordwestlichen Küste Plenimars unterwegs waren.
Später am selben Morgen bemühte er sich, während des täglichen Spaziergangs mit Mardus ins Gespräch zu kommen und ließ sich auf eine angeregte Unterhaltung über das Bogenschießen ein. Am nächsten Tag sprachen sie über Wein und Gifte. Mardus schien angenehm überrascht und befahl ihn zunehmend öfter zu sich.
Am fünften Tag nach Gossols Opferung kam Tildus bei Sonnenuntergang, um ihn zu holen. Der bärtige Hauptmann schwieg, doch Alec mißfiel das selbstgefällige, geheimnisvolle Lächeln, mit dem Tildus ihn auf dem Weg nach oben bedachte.
An Deck stellte Alec erschrocken fest, daß neuerlich alles für das Ritual vorbereitet worden war. Eine Reihe Soldaten hielten Fackeln, um das frisch ausgebreitete Segeltuch zu erhellen, auf dem Irtuk Beshar sich bereits über die Schale und die Krone beugte. Neben ihr stand Vargûl Ashnazai mit der Steinaxt bereit.
Auch Thero war da; mit unverändert leerem Blick stand er neben Mardus. Alle Augen schienen sich auf Alec zu heften, als er sich dem Geschehen näherte.
»O Illior«, flüsterte er heiser und fühlte, wie seine Beine weich wurden. Mardus hatte es sich anders überlegt, sein Gott hatte ihm neue Anweisungen gesandt. Alec war bei seiner Fragerei ein verhängnisvoller Fehltritt unterlaufen …
Tildus umfaßte seinen Arm fester und murmelte: »Ruhig, Mannkind. Noch bist du nicht
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