Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
verzerrte sich zu einer Grimasse, zu einem Knurren, einem stummen Schrei, dann schoß ein schwarzer Arm aus ihrem Mund und streckte sich auf unmögliche Weise, griff nach Alec. Schwarze Klauen schlossen sich um seinen Arm und schleiften ihn über Theros reglosen Leib zurück zu ihr. Einen Lidschlag lang befand sich sein Gesicht nur wenige Zoll von dem ihren entfernt, und ihre wilden Augen bohrten sich in die seinen, während der Mund sich widernatürlich um den Arm dehnte, der daraus hervorragte. Dann verquoll ihr gesamter Körper zu einer schwarzen, menschenähnlichen Masse.
»Bist du da sicher?« fragte das Ding mit der Stimme aus Alecs Alptraum. »Bist du da so sicher?«
Dann ließ ihn das Ungetüm los, verschwamm und strömte wie Rauch durch die Gitterstäbe ins Freie.
»Verflucht sollst du sein!« gellte Alec, der wußte, daß Vargûl Ashnazai in der Nähe alles beobachtete. »Verflucht sollst du sein, du blutsaufender Sohn einer Hure! Du lügst! Du lügst!«
Als Antwort ertönte ein rauhes, höhnisches Lachen aus der Dunkelheit unter den Bäumen.
44
Ein weißer Stein und viele schwarze
Der Wind peitschte Seregil den Umhang um die Knie und zerrte an dem Bogenkasten und dem Köcher, die an seinem alten Rucksack verzurrt waren, während er innehielt, um auf Micum und Nysander zu warten. Als er über die Riffs nach Norden zurückschaute, kamen sie gerade in Sicht. Auf Micum und einen dicken Stock gestützt, bahnte sich Nysander einen Weg über ein ausgedehntes Geröllfeld. Über ihnen ragte der Berg Kythes auf, dessen schartiger Gipfel aus dem Wald an seinem Fuße aufragte wie ein Ellbogen aus einem abgetragenen, grünen Ärmel.
Verwundert schüttelte Seregil den Kopf. Ungeachtet Nysanders gebrechlichem Erscheinungsbild war es dem Zauberer in den letzten zwei Tagen hartnäckig gelungen, mit ihnen Schritt zu halten. Seregil und Micum stützten ihn abwechselnd, während der jeweils andere als Kundschafter vorausmarschierte. Mittlerweile befanden sie sich am Fuß des riesigen Berges und quälten sich am Rand des Waldes entlang, der die Küste säumte, so weit das Auge reichte. Die Gegend wirkte zwar rauh und unbewohnt, aber sie hatten die undeutliche Spur einer überwucherten Straße entdeckt, die durch die Wälder entlang der Riffs führte.
Seregil schaute voraus, schützte die Augen mit der Hand vor der Nachmittagssonne und ließ den Blick über das mächtige Gehölz und die Felsen schweifen.
Ob weiß oder anders, wie in Illiors Namen sollten sie in dieser Wildnis einen einzelnen Stein finden? Ihrem Wissen zufolge konnten sie bereits gestern irgendwo daran vorbeigezogen sein. Dennoch beharrte Nysander darauf, daß sie weiterhasteten, und je weiter sie nach Süden vordrangen, desto heller leuchtete das Licht der Hoffnung in seinen Augen. Micum sprach wenig, aber Seregil nahm an, daß ihn die Aussichtslosigkeit ihrer Suche ebenso entmutigte wie ihn selbst.
Was, wenn Nysander sich irrt?
Seregil focht einen täglichen Kampf mit dieser und anderen Fragen. Was, wenn Nysander als Hüter versagt hatte, indem er die Schlacht im Orëska-Haus verlor? Was, wenn die Wunden, die er in jenem Kampf erlitten hatte, seinen Verstand benebelten und er sie in die Irre führte, während Alec in einen ganz anderen Teil Plenimars verschleppt wurde?
Und doch loderte der Komet immer näher über den nächtlichen Himmel, und das Mal auf Seregils Brust trat immer deutlicher zutage, je mehr die Haut verheilte, daher wagte er nicht, seine Zweifel auszusprechen. Vernunft hin, Vernunft her, in seinem Herzen glaubte er, daß Nysander recht hatte. Daran klammerte er sich, während er jeden Tag verbissen weiterkämpfte, den Blick suchend über den Küstenstreifen entlang des Waldrands wandern ließ, bis seine Augen brannten und sein Kopf schmerzte und ihm jedesmal das Herz aus der Brust zu springen drohte, wenn ein verirrter Sonnenstrahl oder der Widerschein einer Gezeitenpfütze seiner Wahrnehmung einen Streich spielte.
Mittlerweile hatten Nysander und Micum ihn fast eingeholt. Seregil setzte sich auf einen flachen Stein aus rotem Granit und beobachtete die Wildentenschwärme, die auf den Wellen jenseits der Brecher auf und abwogten. Langsam wanderte sein Blick zu den grünlich-braunen Blasentangbärten, die den Steinen weiter unten am Ufer wuchsen. Vereinzelte Büschel davon ließen erkennen, bis wohin die Flut reichte.
Noch weiter unten, am untersten Rand des Gezeitenbereichs, überzog der Tang die Steine gleich einem
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