Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Bestätigung seiner Visionen ebenso sehr gebraucht wie sie.
»O ja, das ist er«, sagte Nysander, als sie den Felsblock erreichten. Dann legte er beide Hände darauf und schloß die Augen.
»Er ist alt, unvorstellbar alt«, erklärte er geradezu ehrfürchtig. »Er wurde hier aufgestellt, lange bevor der erste Priesterkönig plenimaranischen Boden betrat, aber der Widerhall uralter Kulthandlungen ist immer noch stark zu spüren.«
»Du meinst, das ist eine Art vorzeitlicher Schrein?« fragte Micum und betrachtete den Stein eingehender.
»So etwas Ähnliches. Die Gegenstände, die Seregil gefunden hat, sind seit mehr als tausend Jahren hier. Sie sollten wieder an ihren Platz.«
Gehorsam legte Seregil die Tonfigur und die Muschel zurück. »Ich habe den großen Stein von allen Seiten angeschaut, aber keinerlei Symbole entdeckt. Aber wenn es ein Schrein war, ist es vielleicht trotzdem der Tempel aus der Prophezeiung.«
Nysander schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nur ein Kennzeichen. Dessen bin ich sicher. Bevor der Wald darum gewachsen ist, konnte man ihn vom Meer aus erkennen. Auch von dem Pfad aus, sofern es den überhaupt schon gab, als der Stein hier aufgestellt wurde.«
»Dann muß der Tempel irgendwo da hinten in den Wäldern sein«, sagte Micum. »Du bleibst hier und ruhst dich aus, Nysander. Seregil und ich sehen uns mal um.«
Mit einer gewissen Erleichterung stellte Micum fest, daß sich der Wald in dieser Gegend unberührt präsentierte. Die riesigen, durch den ständigen Wind schief gewachsenen Kiefern standen weit auseinander, dazwischen befand sich wenig Unterholz. Doch ungeachtet der guten Sicht hatten Seregil und er nach einer Stunde Suche noch immer nichts gefunden, das nur im entferntesten einem Tempel oder einem sonstigen Bauwerk ähnelte.
Als sie ans Ufer zurückkehrten, fanden sie Nysander unten auf den Riffs. Mittlerweile war es später Nachmittag, und die Tide hatte fast ihren Tiefstand erreicht.
»Nichts, wie? Höchst eigenartig.« Nysander lehnte sich auf seinen Stock und starrte mit gerunzelter Stirn auf die See hinaus. »Also, wenn wir nicht finden, wonach wir suchen, dann suchen wir vielleicht nach etwas Falschem.«
Entmutigt grunzend, sank Micum auf einen Stein. »Wonach sollen wir dann suchen? Wir haben nur noch drei Tage Zeit, bis diese Sonnenfinsternis einsetzt.«
Nachdenklich ließ Seregil den Blick durch die Bucht schweifen, dann ging er auf das Wasser zu. »Das kann nur bedeuten, daß es sich um kein Bauwerk handelt.«
»Ich kenne diesen Blick«, sagte Micum, während er beobachtete, wie Seregil gleich einem Fährtenhund entlang der Riffs vor- und zurücklief.
Gedankenverloren nickte der Zauberer. »Ich auch.«
»Wonach suchst du?« rief Micum.
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Seregil abwesend und stocherte in dem Tang herum, der in einer der größeren Gezeitenpfützen trieb.
»Seht ihr, daß die Anordnung der Steine ein natürliches Amphitheater bildet?« machte Nysander die beiden aufmerksam. »Ihr versucht es auf den höheren Riffs. Ich nehme das rechte.«
Micum kletterte die Felsen auf und ab und schaute sich aufmerksam um, fand jedoch nur von der Sonne gebleichte Muscheln und Vogelmist.
Gerade, als er sich fragte, ob Nysander nicht doch ein wenig Magie opfern sollte, stimmte Seregil weiter unten Triumphgeheul an.
»Was ist denn?« wollte Micum wissen.
Seregil lag ausgestreckt auf dem Bauch und hatte die Arme bis zu den Schultern in eine der langen, schmalen Ritzen gesteckt, die zuhauf in dem unteren Riff entlang der See verliefen.
»Kommt her und seht selbst.«
Micum und Nysander kletterten zu ihm hinunter und spähten in die Rille im Gestein.
»Schaut mal«, sagte Seregil und schob ein Büschel Tang beiseite. Darunter erblickten sie lange Reihen grob in den Stein gemeißelter Symbole, sechs Zoll unterhalb der Oberkante der Spalte. Sie krochen auf Händen und Knien weiter und stellten fest, daß die Symbolreihen auf beiden Seiten der Ritze ein durchgehendes Band bildeten, das sich bis zum Meer hinunter erstreckte. Eine weitere Spalte auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht wies dieselben Zeichen auf.
»Was ist das?« fragte Micum.
Nysanders fahles Antlitz hellte sich vor Erregung auf, während er die Kringel, Kreise und Kreuzschraffuren betrachtete, aus denen sich die Muster zusammensetzten. »Solche Inschriften findet man überall entlang den inneren Meeren, aber niemand hat sie je entziffert. Sie sind lange, bevor unsere Rasse hier
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