Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
ihm nach allen Seiten die Sicht verhüllt. Über ihm brennen sich die Strahlen der blassen Mittagssonne durch den Nebel.
Inzwischen ist das Tosen der Brandung laut, so laut, daß er nicht zu sagen vermag, aus welcher Richtung es kommt. Wagt er sich zu weit, schlägt er im Nebel den falschen Weg ein, so stürzt er zweifellos vom Riff. Er hockt sich nieder und bewegt sich langsam auf allen vieren voran, bis seine Hände Wasser ertasten. Plötzlich umspülen ihn Wellen, stoßen ihn auf den Rücken und schleudern ihn quer über die Felsen. Als das schäumende Wasser wieder zurückweicht, sieht er, daß die Riffs, soweit das Auge reicht, mit den Leichen ertrunkener Männer und Frauen übersät sind, deren bläulich-fahle Haut im schattenlosen Licht schimmert.
Jetzt wird das Geräusch des Meeres leiser, und darüber hört Alec ein rauhes Grunzen und ein schweres, feuchtes Schmatzen im Nebel auf sich zukommen. Von Entsetzen gepackt, nackt, unbewaffnet kauert er sich zwischen die Leichen. Sogar der Pfeil ohne Spitze ist verschwunden, hinfortgeschwemmt von der See.
Bald erblickt er seltsame, bucklige Gestalten, die zwischen den Toten umherschleichen. Das Grunzen und Schmatzen ertönt lauter, näher.
Plötzlich packt ihn von hinten etwas mit eisigem Griff und zerrt ihn auf die Beine. Alec kann den Kopf nicht weit genug drehen, um zu erkennen, was es ist, aber der faulige Gestank, den das Ding verströmt, läßt ihn würgen.
»Hab teil an dem Fest, Junge«, flüstert eine hämische, dumpfe Stimme dicht an seinem Ohr.
Alec windet sich aus dem abscheulichen Griff und wirbelt herum, um zu sehen, was für eine Kreatur da ist, aber er starrt ins Leere.
»Hab teil an dem Fest!« wiederholt dieselbe Stimme, immer wieder hinter ihm, egal, wie schnell er sich dreht.
Er taumelt rücklings und stolpert in einen Haufen aufgedunsener Leichen. Sosehr er sich auch plagt, er kommt nicht mehr auf die Beine; mit jeder Bewegung verfängt er sich mehr in einem Gewirr schlaffer Gliedmaßen.
»Aura Elustri málrei!« kreischt er und fuchtelt wild mit den Armen.
»Hab teil an dem Fest!« brüllt die Stimme triumphierend.
Dann verfinstert sich die Sonne.
Ruckartig erwachte Alec; der entsetzliche Gestank des Todes aus seinem Traum hing ihm noch in der Nase. Ein rundlicher Ausschnitt des Mondes, der durch die Zweige schimmerte, verriet ihm, daß der Morgen noch weit entfernt lag. Gleich einem Häufchen Elend umklammerte Alec die Knie und holte tief Luft, doch mit jedem Atemzug schmeckte die Luft fauliger.
»O Alec, ich habe solche Angst!«
Verblüfft schaute Alec auf und sah Cilla ein paar Fuß entfernt kauern. Von einem gespenstischen inneren Licht erhellt, blickte sie ihn flehentlich an. Ob Geist oder nicht, er war zu erleichtert, sie wieder in einem Stück zu sehen, um sich zu fürchten.
»Was tust du denn hier?« fragte er sanft und betete, sie möge nicht ebenso plötzlich verschwinden, wie sie aufgetaucht war.
»Ich weiß es nicht.« Langsam floß ihr eine Träne über die Wange. »Ich irre schon so lange umher! Nirgends finde ich Vater oder Großmutter. Was ist nur geschehen, Alec? Wo sind wir?«
Sie wirkte so echt, daß er den Umhang abnahm und ihn ihr um die Schultern legte. Dankbar zog sie ihn um sich und kuschelte sich an Alec; sie fühlte sich fest und ausgesprochen wirklich an. Eine Weile kniete er einfach nur neben ihr und verbiß es sich, ihre Anwesenheit in Frage zu stellen. Schließlich aber lehnte er sich ein Stück zurück und blickte auf ihre Hand hinab, die auf seiner Brust ruhte.
»Warum bist du gekommen?« fragte er abermals.
»Ich mußte«, flüsterte sie traurig. »Ich mußte dir sagen …«
»Was mußtest du mir sagen?«
»Wie sehr ich dich hasse.«
Ihre Stimme klang so sanft, so zärtlich, daß es einen Augenblick dauerte, bis die Bedeutung der Worte in sein Bewußtsein sickerte.
Während sich das Herz des Jungen in seiner Brust in Blei verwandelte, sagte sie: »Ich hasse dich, Alec. Du warst schuld daran, mehr noch als Seregil. Sie haben dich gesehen und sind dir gefolgt. Du hast sie zu uns geführt. Ich bin froh, daß du sterben wirst.«
»Nein! Oh, nein, nein, nein, nein!« Panisch krabbelte Alec von ihr weg und warf sich in den hintersten Winkel. »Das ist nicht wahr!« brüllte er. »Es kann nicht wahr sein!«
Langsam hob Cilla den Kopf; ihre Augen glichen im fahlen Mondlicht zwei schwarzen Höhlen. Sie lächelte, und der Verwesungsgestank flutete wieder durch den Käfig. Ihr Lächeln
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