Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Berge, die rechterhand aufragten, und mit Sicht auf die See, die sich linkerhand erstreckte. Je weiter sie in den Norden gelangten, desto unwirtlicher wirkte die Küste. Steinige Kieselstrände wichen roten Granitriffs und -klippen. Fortwährend seufzte ein frostiger Wind durch die Bäume, ließ die verästelten Zweige der Kiefern erzittern und wehte Alec den süßen Duft des Waldes zu. Zwar war es hier kälter als in Skala, dennoch glaubte er, daß sie inzwischen Mitte Lithion haben mußten.
Der Nagel war sein Talisman, das einzige Geheimnis, das einzige Symbol der Hoffnung, das ihm blieb. Er war zu groß, um ihn im Mund zu behalten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, dennoch wagte er nicht, ihn aus der Hand zu geben. Selbst der Matratzenbezug erschien ihm kein ausreichend sicheres Versteck. Statt dessen bohrte er ihn in die Falten seiner Kleider, so daß er unmöglich zu sehen war. Da er sich nur allzugut an den Zwischenfall auf dem Schiff erinnerte, verbarg er ihn sorgsam vor Thero, für den Fall, daß die Totenbeschwörer oder der Dyrmagnos beschlossen, sich wieder des jungen Zauberers zu bedienen, um Alec zu beobachten.
Deshalb also hielt er den Nagel so gut wie möglich versteckt, übte sich in Geduld und wartete auf die rechte Gelegenheit, ihn hervorzuholen. Tag und Nacht strichen Wachen um den Karren, aber selbst ohne Wachen hätte Alec wohl keinen Versuch gewagt, das Schloß zu knacken; Ashnazais warnende Machtveranschaulichung mit den Gitterstäben ließ erahnen, daß ein solcher Versuch fruchtlos und wahrscheinlich gefährlich sein würde. Es war eine entnervende Lage. Alec kannte die Art des Schlosses an dem Gatter und wußte, daß der Nagel mehr als ausreichte, es zu öffnen.
Vargûl Ashnazai ließ von Anfang an keine Zweifel aufkommen, daß er seine neue Aufgabe genoß. Von Mardus’ trügerischer Freundlichkeit haftete ihm rein gar nichts an; statt dessen begnügte er sich damit, gleich einem strengen Schreckgespenst neben dem Karren herzureiten. Alec bemühte sich tunlichst, ihm keine Beachtung zu schenken, während der Bärenkarren nordwärts über die zerfurchte Küstenstraße rollte und rumpelte. Dennoch spürte er nur allzu deutlich den hämischen Blick des Totenbschwörers im Nacken.
Die erste Nacht unterwegs verbrachte die Kolonne im Schutze eines uralten Kieferngehölzes. Das Tosen der Brandung war laut. Wenn Alec in westlicher Richtung an den riesigen, geraden Strünken vorbeischaute, konnte er die weiße Gischt der Wellen sehen, die donnernd gegen die Riffs peitschten. Das Geräusch erinnerte ihn an das Meeresrauschen aus seinen Träumen, doch es war nicht ganz dasselbe.
Als die Dunkelheit hereinbrach, erhob sich abermals Jubelgeschrei, und er nahm an, daß sich der Komet wieder zeigte, obwohl er ihn durch die Zweige über sich nicht zu erkennen vermochte. Viel später hörte er qualvolle Schreie durch die Dunkelheit dringen, und er wußte, daß irgendwo in der Nähe wieder das Opferritual stattfand. Sogar die Wachen rings um den Karren traten beunruhigt von einem Bein aufs andere, einige schlugen Schutzzeichen.
Diesmal dauerte das Gebrüll länger an. Alec war kalt und übel; erschöpft kauerte er sich dichter an Theros schlafende Gestalt und zog sich den Umhang über den Kopf.
Vor weniger als einem Jahr hatte ein jüngerer, unschuldigerer Alec in Asengais Verlies die ganze Nacht wachgelegen und schluchzend bei jedem neuen Schrei gezittert, der aus der Folterkammer hallte.
Die Wochen voller Tod und Qualen in Mardus’ Gesellschaft hatten ihn für derlei Empfindungen nahezu völlig ertauben lassen.
Er preßte die Hände auf die Ohren und versank in einen unruhigen Schlummer, mit dem düsteren Gebet des Überlebenden auf den Lippen: Diesmal zumindest war noch nicht ich an der Reihe.
Diesmal gibt es in seinem Alptraum keinen sichtbaren Verfolger, nur die heiseren Schreie, die ihn schneller und schneller vorantreiben. Tränen der Verzweiflung strömen ihm über die Wangen; krampfhaft umklammert er den nutzlosen Pfeilschaft und rennt, bis seine Brust schmerzt. Hinter einer Biegung kommt er taumelnd zum Stehen; eine eingestürzte Mauer versperrt ihm den Weg.
Ein Hoffnungsfunke flammt in ihm auf, als er den Lichtstrahl erblickt, der durch eine schartige Spalte hereindringt. Von draußen hört er das vertraute Rauschen und Tosen einer Brandung.
Er erklimmt den Geröllhaufen, quetscht sich durch das Loch -
- und steht ganz allein auf einem Granitriff, umgeben von dichtem Nebel, der
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