Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
ankam, entstanden, genau wie der Stein oben im Wald.«
»Ein weiterer heiliger Ort«, meinte Seregil und richtete sich auf. »Ich habe die Krone in einer Kammer gefunden, die von den Dravniern als Geisthort bezeichnet wurde. Nachdem ich die Krone hatte, konnte ich den Geist spüren. Micum, erinnerst du dich noch an die unterirdische Höhle, auf die du im Fen-Gebirge gestoßen bist?«
»Sicher.« Micum verzog das Gesicht, als er sich den gräßlichen Anblick der Opferleichen ins Gedächtnis rief.
»Du hast doch gesagt, darin hätte sich eine Art Steinaltar befunden«, sagte Nysander und tauschte einen aufgeregten Blick mit Seregil. »Auch diese Höhle könnte so etwas wie eine heilige Stätte gewesen sein, bevor die Holzscheiben darin versteckt wurden.« Er deutete mit der Hand auf die Inschriften, die sie gefunden hatten. »Und nun dieser Platz, dieser uralte Tempel. All das läßt darauf schließen, daß sich die Totenbeschwörer der Macht solcher Orte bedienen, um die eigene Magie zu verstärken. Wenn wir davon ausgehen, daß dies zutrifft, dann muß sich eine bestimmte Bedeutung dahinter verbergen, daß Mardus ausgerechnet diesen ziemlich versteckten Ort gewählt hat.«
»Dasselbe habe ich auch gerade gedacht«, pflichtete Seregil ihm bei und spähte in die Rille zu seiner Rechten. Die sanften Wellen der Tide krochen darin herauf, spritzten weiße Gischt auf und hoben den Tang an. Nach einer kurzen Weile begann Seregil, die Stiefel auszuziehen.
»Hol doch bitte ein Seil, Micum«, bat er seinen Freund und streifte auch das Oberkleid und das Hemd ab.
»Was hast du vor?«
»Ich will mir nur ansehen, wohin diese Felsspalten führen.«
Seregil knotete sich ein Ende des Seils um die Hüfte, den Rest reichte er Micum, dann watete er in das eisige Wasser.
Als er hüfttief darin stand, riß ihm die Strömung die Beine weg. Micum straffte das Seil, aber Seregil tauchte auf und bedeutete ihm, es wieder lockerzulassen. Tapfer kämpfte er gegen die Wellen an, schwamm weiter hinaus und tauchte abermals unter.
»Wonach sucht er denn bloß?« murmelte Micum beunruhigt, während er mehr Seil nachgab.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Nysander und schüttelte den Kopf.
Seregil tauchte noch zweimal unter, bevor er Micum zurief, er möge ihn zurückziehen.
Vor Kälte bleich und blaulippig wankte Seregil über das Riff herauf und legte sich auf die von der Sonne aufgeheizte Oberfläche. Nysander löste seinen Umhang und deckte ihn damit zu.
Micum hockte sich neben ihn. »Hast du etwas gefunden?«
»Nichts. Ich dachte, daß nun, da die Gabentide bevorsteht …« Jäh verstummte Seregil. Dann setzte er sich auf und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Bei Illiors Fingern, es ist genau umgekehrt!«
»Ah, ich glaube, ich verstehe!« Zum ersten Mal seit Tagen kroch ein wenig Farbe in Nysanders bleiche Wangen. »Wie konnte ich etwas so Offensichtliches nur übersehen?«
»Eine Gabentide?« hakte Micum nach, der sich fragte, ob er richtig gehört hatte.
Seregils Zähne klapperten wie Bakshi-Steine in einem Lederbecher, als er meinte: »Das ist das letzte Mosaiksteinchen. Jetzt fügt sich auch der Rest zusammen.«
»Wovon, um alles in der Welt …«
»Zweimal jeden Monat bewirkt der Mond, daß die Tide außergewöhnliche Extremstände erreicht«, erklärte Nysander. »Die Fischer nennen das eine Gabentide. Am Tag der Sonnenfinsternis wird eine solche Tide stattfinden.«
»Es war der Seetang«, fuhr Seregil fort, als beantwortete dies alle Fragen. »An der unteren Gezeitenlinie wächst er am dichtesten. Letzte Nacht ist mir aufgefallen, daß bei Ebbe ein ungewöhnlich dickes Band freilag.«
»Aber du hast doch gerade gesagt, daß da draußen nichts ist«, warf Micum ein.
»Stimmt.« Seregil sprang auf die Beine und kletterte das Riff hinauf. »Und ich hätte mir das kalte Bad ersparen können, wäre ich früher darauf gekommen. Leitus hat gesagt, die Sonnenfinsternis würde mittags eintreten. Zu der Zeit erreicht die Tide einen extremen Höchststand! Das ist die andere Hälfte des Kreislaufes!« Wasser troff ihm von der Nasenspitze, während er die Spalte abermals in Augenschein nahm und ihr hinauf ins höhergelegene Gelände folgte. Plötzlich bückte er sich über einem Steinhaufen nahe einer der parallel verlaufenden Rillen und begann, die Steine auseinanderzuklauben.
»Schaut mal, ein Loch«, sagte er und zeigte ihnen ein etwa handbreites, rundes Loch, das tief in den Stein gebohrt worden war. Auf Händen
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