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Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit

Titel: Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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sein seltsames Blut sich allmählich abkühlte, erfaßten seine Sinne etwas Neues. Kurz scharrte er mit dem gespaltenen Huf über den Felsboden, dann stieß er ein klagendes Röhren aus, verstummte und lauschte.
    Die Antwort bestand aus einem leisen Flüstern in der Stille seines Verstandes. Weder eine Stimme, noch ein Geruch oder Bild, nur ein Appell an seinen Instinkt.
    Nach Norden, immer weiter nach Norden. Folg und vertrau mir.
    Wie ein Vogel, der sich beim ersten Frosteinbruch plötzlich an den Weg nach Süden erinnert, gab Alec dem Drängen jenes matten Schimmers nach; sein Verstand war noch zu sehr von dem des Hirschs umwölkt, um Fragen zu stellen oder Zweifel zu hegen.
    Nach einem weiteren, kehligen Röhren drehte er das Gesicht in den Wind und preschte weiter.
    Vom Mondlicht geworfene Schatten huschten über seinen breiten Rücken, während sein menschlicher Verstand allmählich zu bewundern begann, wie der neue Körper sich anfühlte.
    Er spürte, wie sich die Muskeln des Hirschs beim Springen anspannten, spürte das Schlagen des mächtigen Herzens in der Brust und das schwere Geweih, das er so mühelos trug wie in seiner früheren Gestalt einen Hut.
    Den vertrauten Gerüchen der See und des Waldes haftete eine üppige Fülle an, die jede menschliche Wahrnehmungskraft überstieg. Als er an einem Bach innehielt, um daraus zu trinken, konnte er dem Duft der jungen Malventriebe nicht widerstehen, die am Ufer wuchsen. Der feuchte, grüne Geschmack erfüllte seinen Mund so süß wie der einer Honigwabe. Dann flog unter leisem Federrascheln eine graue Eule an ihm vorbei, woraufhin er wieder losrannte.
    Je weiter er nach Norden gelangte, desto trostloser wirkte der Küstenstreifen. In der Ferne sah er einen einzelnen Berggipfel zu den Sternen emporragen. Hier waren die Riffs breiter, erstreckten sich ins Meer hinaus und wiesen Spalten sowie Schichten dunkleren Gesteins auf. Weiter oben, wo Grasland an den Felsboden grenzte, stieg von einem Teppich aus Krähenbeeren und Flechten ein süßlicher Duft auf, als er darüber hinweggaloppierte.
    Langsam zog die See sich hinter die Riffs zurück und näherte sich ihrem Tiefstand, wobei sie funkelnde Gezeitenpfützen hinterließ, die in der Dunkelheit wie schwarze Spiegel glänzten. Der Mond versank im Meer, die Sterne blinzelten sich allmählich aus. Als der Wind sich drehte und die Gerüche der Nacht zu verblassen begannen, witterte Alec Menschen und Pferde. Rasch rannte er in eine kleine Schlucht, verharrte reglos, schnupperte in der lauen Brise und wartete, bis sie an ihm vorüber und gen Norden verschwunden waren.
    Alec spürte das bevorstehende Morgengrauen schon lange, bevor sich am Himmel die ersten Zeichen zeigten. Der klare Schein des Tierkreislichtes zog hinter den Bergen auf und weckte ganze Schwärme von Möwen und Enten, die schlafend auf der Dünung jenseits der Reihe der Brecher getrieben hatten. Der Lichtwechsel zupfte an irgend etwas in seiner Erinnerung, doch unter dem übermächtigen Einfluß des Tierinstinktes und des Rufes, dem er folgte, vermochte er sich nicht zu entsinnen, um was es sich handelte.
    Der erste Strahl echter Morgenröte berührte ihn, als er gerade über einen schäumenden Gebirgsstrom sprang. Mitten in der Luft verschwamm der Hirsch, und an seiner Stellte tauchte ein schlanker, nackter Junge auf.
    Der Schwung beförderte Alec über den Strom. Er landete linkisch und schürfte sich Knie und Ellbogen auf. Noch völlig benommen von der Verwandlung, streckte er sich auf dem Rücken aus, blinzelte in den marmorähnlichen, goldenen Himmel empor und überlegte schwerfällig, wo er sich befand und wie er hierhergelangt war.
    Kleine Wellen gurgelten in dem Strom, über den er soeben gesprungen war und spritzten funkelnd weiße Tröpfchen auf seine nackte Haut. Als Alec sich mühevoll auf die Knie rappelte, stellte er fest, daß er immer noch das Elfenbeinfläschchen trug, das er Vargûl Ashnazai abgenommen hatte. Er öffnete es und leerte den Inhalt, ein paar dunkle Holzsplitter, auf seine Handfläche.
    Ein greller Blitz voller Erinnerungen blendete ihn – Ashnazai, der mit dem Fläschchen spielt, während er an Bord der Kormados seiner Folter frönt; der Ausdruck der Zufriedenheit auf der Fratze des Totenbeschwörers, als er Seregils Kehle durchschneidet; Theros letzter, verzweifelter Schrei, der sich mit dem Geheul des Ungetüms vermischt, das man ihnen nach ihrer Flucht auf die Fersen hetzt. Mit einem erstickten Schluchzen schleuderte er

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