Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
der offenen See herein und zerschellten in Fontänen funkelnder Gischt an den Felsen. Eine frische Brise, die vom Meer hereinblies, trug den Tropfenregen an die Küste; Seregil drehte im Laufen das Gesicht in den Wind und schmeckte Salz auf den Lippen.
Alec war am Leben. Nur das zählte.
Während er sich vorankämpfte, behielt er ständig die Bäume im Auge. Eine Patrouille hatte sich bereits gezeigt; andere würden folgen. Noch zur selben Stunde erspähte er in der Nähe das Gleißen von Sonnenlicht auf Metall.
Rasch tauchte er in einer Felsspalte unter und lauschte, wie eine Gruppe Reiter vorbeigaloppierte. Dem Klang nach handelte es sich um mindestens ein Dutzend Mann. Er wartete, bis das Geräusch der Pferde im Norden verhallte, dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Eine weitere Stunde verstrich; allmählich keimte in ihm die Sorge auf, sie könnten einander irgendwie verpaßt haben. Womöglich war Alec genau wie er hinter einem Felsvorsprung oder im Wald in Deckung gegangen oder verunglückt oder wieder gefaßt worden. Seregil verdrängte diese düsteren Gedanken und hockte sich auf einen feuchten Felsblock, um zu verschnaufen.
Dabei stieß er eine kleine Gruppe gestreifter Strandschnecken an, die gleich einem Murmelregen in die Gezeitenpfütze zu seinen Füßen kullerten und rollten. Eine Möwe schwebte herab und ließ sich an der gegenüberliegenden Seite der Lache nieder, um zu trinken.
»Ich werde ihn finden«, sagte Seregil und stützte den Kopf auf die Hände. »Er ist hier, und ich werde ihn finden.«
Die Möwe betrachtete ihn mit einem mißtrauischen, gelben Auge, dann flatterte sie höhnisch krächzend davon. Als Seregil den Kopf drehte, um ihren Abflug zu beobachten, erstarrte er vor Verblüffung. Von einem Felsplateau kaum zwanzig Fuß entfernt starrte eine bleiche, zerschundene Gestalt zu ihm herab.
»Alec!«
Der ausgezehrte, mit Blutergüssen übersäte und nackte Junge schwankte sichtlich, als ihn ein Windstoß erfaßte. Doch trotz seiner offensichtlichen Erschöpfung verharrte er in fluchtbereiter Haltung.
»Alec, ich bin’s«, sagte Seregil, diesmal mit sanfterer Stimme, und beobachtete, wie Hoffnung und Furcht einander in Alecs dunklen, zusammengekniffenen Augen einen erbitterten Kampf lieferten. Was hatte nur solches Mißtrauen in ihm gesät? »Was ist denn los, talí?«
»Was tust du hier?« krächzte Alec, und der Argwohn in der Stimme des Jungen versetzte Seregil einen Stich ins Herz.
»Ich suche nach dir. Nysander ist auch hier, und Micum. Die beiden warten dort hinten.«
»Nysander ist tot«, widersprach Alec und wich einen Schritt zurück.
»Nein, er ist fast gestorben, aber er lebt, glaub mir. Jetzt wissen wir auch, was Mardus vorhat. Wir hatten recht, Alec. Wir sind die Vier – du, ich, Nysander und Micum. Wir alle sind hier, um Mardus aufzuhalten.«
Kläglich erzitterte Alec, als der Wind ihm die Haare in das bleiche Antlitz wehte. »Woher soll ich wissen, daß du es wirklich bist?« murmelte er schwach.
»Wovon redest du denn?« fragte Seregil zunehmend verwirrt. »Was haben sie mit dir gemacht, talí? Ich bin’s! Ich komme jetzt zu dir rauf, ja? Hab keine Angst.«
Zu seinem Erstaunen wandte sich Alec um und ergriff die Flucht.
Seregil hastete die Felsen hinauf, jagte hinter ihm her, schlang die Arme um ihn und hielt den Jungen fest, der sich heftig zur Wehr setzte.
»Beruhig dich doch! Was ist denn los?« Er spürte, wie Alecs Herz unter den Rippen hämmerte.
Keuchend wirbelte Alec herum und legte die Hand auf Seregils Wange. Mühevoll rang Seregil die eigene, plötzliche Angst nieder und lockerte den Griff um seinen Freund.
Behutsam berührte Alec sein Haar, seine Schultern und Arme; dabei sprach aus den Zügen des Jungen solche Anspannung und Furcht, daß er fast wie ein wildes Tier wirkte. Nach einer Weile jedoch verblaßte die Angst; an ihre Stelle trat die wundersamste Erleichterung, die Seregil je gesehen hatte.
»O Illior, du bist es tatsächlich. Du lebst«, keuchte Alec, dem Tränen aus den Augen quollen. »Dieser Hundesohn! Ich hätte es ahnen müssen, aber das Blut, deine Stimme und alles … Aber du lebst!« Schaudernd zog er Seregil in eine inbrünstige Umarmung.
»Soweit ich weiß schon«, erwiderte Seregil mit vor Bewegung belegter Stimme, als Alec ihn an sich drückte. Inzwischen zitterte der Junge heftig. Seregil ließ ihn kurz los, um den Umhang abzunehmen und ihn Alec um die Schultern zu legen, dann führte er seinen hemmungslos bebenden
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