Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
ihren Brustplatten erkennen konnte, bevor Shradin endlich zu Retak hinaufwinkte.
Der Häuptling hob den Stock mit beiden Händen über den Kopf und stimmte einen Schrei an, der das Blut in den Adern gerinnen ließ. Die übrigen Dorfbewohner fielen mit ein und gellten und kreischten aus Leibeskräften. Im selben Augenblick traten Seregil, Shradin und die jungen Männer aus dem Dorf Gesteins- und Eisbrocken los, auf daß sie den steilen Hang hinabkullerten.
Zunächst geschah gar nichts.
Dann ertönte das erste Donnergrollen von der Westwand her, als sich tonnenweise Schnee und Eis lösten und auf den plenimaranischen Trupp hinabstürzten.
Seregil konnte die fahlen Kreise emporgerichteter Gesichter erkennen, als die Soldaten zu spät begriffen, in welche Falle sie sich hatten locken lassen. Die ordentliche Reihe verschwamm und zerbrach. Männer fielen in den Schnee und ruderten in dem Versuch mit den Armen, irgendwie der erbarmungslosen Flutwelle zu entkommen, die auf sie zuhielt.
Binnen Sekunden rollte die Lawine über sie hinweg; gleich Laub in einem Fluß wurden die Männer mitgerissen und verschwanden außer Sicht. Von den Dravniern erhob sich lautes Jubelgeschrei, das eine weitere, ohrenbetäubende Lawine von der Ostwand löste.
Mit einem Getöse, dem etwas Endgültiges anhaftete und das minutenlang zwischen den kahlen, im Sonnenschein funkelnden Gipfeln hin und her hallte, tosten die Schneemassen durch das Tal und rollten über die erste Schicht hinweg.
Ausgelassen klopfte Shradin Seregil auf den Rücken. »Ich hab’ doch gesagt, daß sich der Schnee genau so lösen würde!« brüllte er. »Niemand kann so etwas überleben!«
Seregil warf einen letzten, forschenden Blick auf die gewaltigen Schneemassen unter sich, dann winkte er Turik herbei. »Es ist an der Zeit, daß ich meine Aufgabe vollende. Dieser böse Geist muß aus eurem Tal verbannt werden, damit nie wieder jemand kommt, um ihn zu suchen.«
Verblüffenderweise lag der Tunneleingang immer noch frei, obschon sich rings um die Stelle hohe Schneewächten auftürmten.
Während die Frauen hinter Seregil Siegeslieder anstimmten, bahnte er sich den Weg durch den rutschigen, schmalen Tunnel hinab. Der Lärm in seinem Kopf und das Kribbeln auf der Haut fühlten sich genauso schlimm wie letztes Mal an, doch diesmal schenkte er beidem keine Beachtung, da er wußte, was er zu tun hatte.
»Da bin ich wieder«, flüsterte er, als er die Kammer erreichte. Er verschwendete keinen Gedanken darauf, was geschehen mochte, sollte er sich hinsichtlich der Natur des Zaubers geirrt haben; statt dessen umklammerte er die Schatulle und sagte laut: »Argucth chthon hrig.«
Eine schaurige Stille senkte sich über die Kammer. Dann vernahm er ein leises Knacken, das ihn an glühende Kohlen erinnerte, die in einem Ofen abkühlen. Winzige Blitze zuckten gleich einem Miniaturgewitter über die Felswand am gegenüberliegenden Ende der Kammer.
Seregil trat einen Schritt zurück, dann hechtete er auf den Tunnelausgang zu, als der Fels explodierte.
Scharfkantige Splitter sausten surrend wie Pfeile durch den Tunnel und gruben sich hinten in Seregils dicken Mantel und die Hose. Andere prallten rings um ihn ab und zischten gleich einem kurzen, todbringenden Sturm durch die winzige Kammer.
Binnen eines Lidschlags war alles vorüber. Einen Augenblick verharrte Seregil noch mit den Armen über dem Kopf, dann hielt er vorsichtig den Lichtstein hoch und spähte zurück.
In die gegenüberliegende Wand war eine Öffnung gesprengt worden, hinter der ein dunkler Hohlraum zum Vorschein trat.
Seregil zog das Schwert, ging näher und schielte in die zweite Kammer hinein. Sie wies annähernd die Größe seiner Wohnstube im Jungen Hahn auf. An der hinteren Wand fing sich der Schein des Lichtsteins in einer glänzenden Eisplatte und reflektierte ihn über ein Gewirr verdorrter, auf dem Boden verstreuter Leichen.
Die ständige Kälte unter dem Gletschereis hatte den Körpern im Laufe unzähliger Jahre die Feuchtigkeit entzogen und sie dunkel und verschrumpelt zurückgelassen, mit zu Grimassen verzogenen Lippen, rosinengleich vertrockneten Augen und zu Klauen gekrümmten Händen.
Seregil sank auf die Knie; unter dem Mantel rann ihm kalter Schweiß die Brust hinab. Sogar in diesem Zustand war deutlich erkennbar, daß die Brustkörbe gespalten und die Rippen weit auseinandergezogen worden waren. Erst vor ein paar Monaten war sein Freund und Kollege, Micum Cavish, fast tausend Meilen
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