Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Seregil!
Nysander ballte die Hände zu Fäusten und grub die Nägel in die Handflächen. Seregil, den er wie einen Sohn und Freund liebte, hatte sich durch seine hartnäckige Neugier beinahe selbst zum Tode verurteilt. Genauso würde es sich künftig mit Alec verhalten – soviel stand fest.
Zum ersten Mal seit Jahren fragte er sich, was sein Meister zu alldem wohl gesagt hätte. Er hatte Arkoniels zerfurchtes Antlitz so deutlich vor Augen, als hätte er ihn erst gestern gesehen.
Als Nysander ihn zum ersten Mal traf, hatte er alt gewirkt, doch er hatte sich scheinbar nie verändert. Wie fieberhaft der junge Nysander – jenes Gossenkind, das Arkoniel halbverhungert und verwahrlost aus den Elendsvierteln der Stadt aufgelesen hatte – doch versucht hatte, die Geduld und Weisheit des alten Mannes nachzuahmen.
Doch von Arkoniel hatte er auch die Bürde der Hüterschaft geerbt, jenen dunklen Wissensfaden, der unter keinen Umständen reißen und unter allen Umständen geheimgehalten werden mußte. Die Ereignisse der letzten Monate, die damit begannen, daß Seregil jene verfluchte Scheibe fand, und die in den Omen anläßlich der Zeremonie letzte Nacht gipfelten, bewiesen, daß des Fadens Ende nahte.
Nachdem er in jener Nacht keine Antworten gefunden hatte, war er in seinen Turm zurückgekehrt und hatte sich auf eine lange Meditation vorbereitet. Noch bei Sonnenaufgang saß er reglos und scheinbar entspannt da. Verschwommen nahm er wahr, daß Thero kurz die Kammer betrat und sich achtungsvoll wieder zurückzog.
Als am Sakortag das letzte Licht der Sonne hinter der Turmkuppel verblaßte, schlug Nysander die Augen auf und war genauso schlau wie zu Beginn der Sitzung. Da ihn keine Eingebung ereilt hatte, blieben ihm nur Tatsachen. Seregil war offenbar zufällig über jene Scheibe gestolpert. Danach begab er sich zu Illiors Orakel, das ihm einen Bruchteil einer Prophezeiung offenbarte, über die eigentlich niemand außer Nysander selbst Bescheid wissen durfte. Letzte Nacht waren dieselben Worte -›Verzehrer des Todes‹ – vom Sakorpriester gesprochen worden, danach war jenes seltsame Omen mit den aasfressenden Vögeln gefolgt.
Nysander erhob sich, streckte die steifen Glieder und machte sich abermals auf zum Tempelvorhof.
Hinter dem Illior-Tempel geriet gerade ein fahler Streifen des Mondes in Sicht, als er sein Ziel erreichte. Nysander deutete dies als gutes Zeichen, betrat den Tempel und legte die rituelle Maske an.
Erst wenige Male hatte er den Rat des Orakels gesucht, und selbst dann überwiegend aus Neugier. Seine Hingabe für Illior war anderer Natur als jene der Priester.
Nun aber eilte er voran, getrieben von einem wachsenden Gefühl der Hoffnung. Mit einem Fingerschnippen zauberte er sich ein Licht herbei, dann bahnte er sich über die gewundene, tückische Treppe den Weg hinab in die unterirdische Kammer des Orakels. Unten angekommen, löschte er das Licht und schritt in pechschwarzer Finsternis den Korridor entlang. Mit jedem Schritt steigerte sich seine Überzeugung, daß ihm jenes arme, wahnsinnige Wesen am Ende des Ganges Antworten zu bieten hatte.
Ein plumper, ungepflegter junger Mann, der auf einer Pritsche kauerte, schaute auf, als er eintrat. Natürlich war dies ein anderes Orakel als jenes, an das Nysander sich erinnerte, doch der Rest war unverändert: die drückende Stille; das düstere, kalte Licht; die reglos zu beiden Seiten der hirnlosen Hülle des Unsterblichen sitzenden Wächter; die gesichtslosen Silbermasken, die aus den Tiefen ihrer Kapuzen hervorfunkelten.
»Sei gegrüßt, Hüter!« rief das Orakel, dessen verschwommener Blick sich in Nysanders verkeilte.
»Du kennst mich?«
»Wer du bist, ist nichts«, antwortete das Orakel, während es langsam von Seite zu Seite wippte. »Was du bist, ist alles. Alles. Mach dich bereit, o Hüter. Das Martyrium steht dicht bevor. Hast du bewahrt, was dir anvertraut wurde?«
»Das habe ich.« Plötzlich fühlte sich Nysander unbeschreiblich müde. Wie viele Male war er durch den staubigen Irrgarten unter dem Orëska-Haus gewandelt und hatte dabei unbedarfte Neugier geheuchelt? Wie viele Jahre hatte es gedauert, sich einen Ruf als verschrobener, wenngleich mächtiger Eigenbrödler zu erarbeiten? Wie viel hatte er geopfert, um den Glauben ganzer Generationen aufrechtzuerhalten?
»Halte dich bereit, o Hüter und sei auf der Hut«, fuhr das Orakel fort. »Deine Zeit kommt aus Dunkelheit und verborgenen Winkeln auf dich zu. Die Schergen des Großen
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