Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Gegners galoppieren in geheimem Glanz heran. Deine Rolle wird bitter sein wie Galle.«
Stille umschlang sie wieder wie eine schwere Decke. Bedächtig sagte Nysander Worte auf, die seines Wissens seit fast fünf Jahrhunderten nicht mehr laut ausgesprochen worden waren. Es handelte sich um einen Abschnitt aus »Hyradins Traum«, jenem blassen Hoffnungsschimmer, an den er und all seine Vorgänger sich während der langen Jahre ihrer Hüterschaft geklammert hatten.
»›Und so kam der Wundersame, der Verzehrer des Todes, um die Welt bis auf die Knochen zu häuten. Gewandet in menschliche Hülle kam er, mit einem gar gräßlichem Helm großer Dunkelheit auf dem Haupte, und niemand denn die Viere vermochten, ihm Einhalt zu gebieten.
Der erste wird sein der Hüter, ein Lichtschein in der Finsternis. Dann der Schaft und die Vorhut, die da werden versagen und doch nicht versagen, so der Führer, der Ungesehene, voranschreitet. Und zuletzt wird abermals sein der Hüter, dessen Rolle bitter ist, bitter wie Galle.‹«
Das Orakel erwiderte nichts darauf, doch es schaute mit einem Blick zu ihm auf, der bestätigte, daß es keinen anderen Ausweg gab.
Nach einer Weile verbeugte sich Nysander leicht und ging den Weg, den er gekommen war, zurück nach Hause; allein und in Dunkelheit.
9
Ein unerwarteter Verbündeter
Alec hatte gehofft, daß sich ihr Aufenthalt in der Radstraße kurz gestalten würde – vielleicht eine Woche, um dem Anschein Genüge zu tun. Doch aus der einen Woche wurden deren zwei, und diese wiederum dehnten sich auf einen Monat aus. Seregil mußte sich um »Tageslichtgeschäfte« kümmern, wie er seine zahlreichen redlichen Unternehmungen in der Stadt zu nennen pflegte. Sie verbrachten viel Zeit in der Unterstadt, wo er sich in nach Teer und Niedrigwasser stinkenden Lagerhäusern mit Kapitänen traf oder in den Zollgebäuden mit Händlern feilschte. Das bedeutete, daß ihre gemütlichen Zimmer im Jungen Hahn vorerst als tabu galten; sie durften keinesfalls das Wagnis eingehen, daß eine Verbindung zwischen Lord Seregil und der Herberge aufkam.
Die Geschäftemacherei an sich langweilte Alec, aber er begnügte sich damit zu beobachten, wie Seregil die Rolle spielte. Trotz seines gezierten Gebarens wahrte er sich eine Nahbarkeit, die Vertrauen und Achtung erweckte. Zudem haftete ihm der Ruf an, in bestimmten Dingen ausgesprochen großzügig zu sein; nur allzu bereitwillig versorgten ihn die Händler mit jedwedem Gerücht, das augenblicklich im Umlauf war, und es ereignete sich kaum etwas, ob redlich oder unredlich, von dem Seregil nicht binnen kürzester Zeit erfuhr.
Ebenso wichtig waren die abendlichen Salons. Sobald bekannt geworden war, daß der selten greifbare Lord Seregil endlich zu Hause weilte, strömte eine wahre Flut von parfümierten, wachsversiegelten Einladungen herein. Indem sich Alec Nacht für Nacht mit Adeligen jeden Ranges herumschlug, erlernte er Schritt für Schritt die hohe Kunst des Wortgefechts, der es so dringend bedurfte, um sich in den verschlungenen Gewässern der skalanischen Politik zurechtzufinden.
»Ränke!« rief Seregil stets lachend, wenn Alec gar zu oft über den Zwang manierlichen Verhaltens jammerte. »Ränke sind unser Brot, und die Butter drauf, und die einzigen Ränke, an denen sich gut verdienen läßt, sind die der Wohlhabenden. Lächle freundlich, nicke oft und laß die Ohren gespitzt.«
Zunächst sorgte Alecs Anwesenheit für einigen Gesprächsstoff, und bald kursierten wilde Gerüchte über seine Beziehung zu Seregil. Höhergeistige Seelen beschieden sich damit zu glauben, daß er tatsächlich Seregils Mündel oder vielleicht sein unehelicher Sohn war, die Mehrheit der Meinungen jedoch ging in Richtung weniger selbstloser Möglichkeiten. Alec fühlte sich gedemütigt, an Seregil hingegen prallte all das ab.
»Nimm es dir nicht zu Herzen«, riet er Alec. »In diesen Kreisen ist das einzige, was schlimmer ist, als verleumdet zu werden, wenn überhaupt nicht über einen geredet wird. In ein, zwei Monaten haben sie all das dumme Zeug vergessen und glauben, du wärst schon seit Jahren dagewesen.«
Zu diesem Zweck nahmen sie Bedacht darauf, häufig in den besseren Theatern und Spielhäusern zu verkehren. Das Tirarie-Theater in der Lichterstraße war einer von Seregils Lieblingsorten, insbesondere, wenn Pelion í Eirsin auf der Bühne stand.
Alec war auf Anhieb Feuer und Flamme für das Drama. Da er nur mit Balladen und Tavernenerzählungen aufgewachsen
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