Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
benommen, und sein Herz setzte einen Schlag aus, während er sich umschaute.
Die Wände präsentierten sich in Felder unterteilt, und jedes Feld zeigte gutgebaute, nackte Männer, die sich, leidenschaftlich ineinander verschlungen, fleischlichen Genüssen hingaben. Allein die Vielfalt der Bilder war verblüffend. Viele der dargestellten Akte schienen geradezu athletischer Fähigkeiten zu bedürfen und einige, fand Alec, mußten ganz und gar der Vorstellungswelt des Künstlers entsprungen sein.
Nach einer Weile löste er den Blick von den Gemälden und musterte rasch die Anwesenden in dem erstaunlichen Saal. Männer jeden Alters rekelten sich auf überall im Raum angeordneten Sofas; einige umarmten sich beiläufig, während sie einem jungen Lautespieler am Kamin ihre Aufmerksamkeit schenkten, andere lachten und unterhielten sich an hier und da verstreuten Spieltischen. Paare und kleine Gruppen kamen und gingen über eine gewundene Treppe am hinteren Ende des Salons. Zwar verhielt sich niemand unzüchtig, aber viele der Männer trugen wenig mehr als lange Nachthemden.
Die Gäste schienen überwiegend Adelige verschiedensten Ranges zu sein, doch Alec erblickte auch Uniformen der Bogenschützen der Königin, der Stadtwache, mehrere Marinewappenröcke sowie einen roten Tappert der Garde der Orëska. Er erkannte sogar ein paar Gesichter, einschließlich jenes des Dichters Rhytien, der gerade von einer Fensternische aus einer gefesselten Zuhörerschaft etwas vortrug.
Die Kurtisanen, sofern man sie so nannte, wurden in keiner Weise der Vorstellung gerecht, die Alec von ihnen gehabt hatte; einige waren zart gebaut und gutaussehend, die meisten aber glichen eher Athleten oder Soldaten, und nicht alle waren jung.
Seregils Stimme hatte er nicht mehr gehört, seit er das Haus betrat, dafür erspähte er ihn nun auf einem Sofa in der Nähe des Kamins. Einen Arm hatte er um einen hübschen, goldgelockten jungen Mann geschlungen, und sie lachten gemeinsam über etwas. Als der Liebesdiener den Kopf drehte, erkannte Alec den Mann – es war dasselbe Antlitz, das Seregil auf den Rand des Notenblattes gemalt hatte. Sogar aus der gegenwärtigen Entfernung sah Alec, daß der Bursche grüne Augen hatte.
Als er sich endlich dazu durchrang, die Aufmerksamkeit Seregil zuzuwenden, verspürte er einen weiteren, schmerzlichen Stich im Herzen.
Unter der offenen Robe trug sein Freund nur eine Hose, und das dunkle Haar wallte lose über die Schultern. Schlank, geschmeidig und gänzlich unbeschwert, wie er dort lungerte, hätte man ihn ohne weiteres für einen der Männer des Hauses halten mögen. Tatsächlich, gestand Alec sich stumm ein, stellte er sie alle in den Schatten.
Er war wunderschön.
Während Alec immer noch wie angewurzelt dastand, fühlte er sich plötzlich merkwürdig zerrissen. Der alte, im Norden aufgewachsene und unreife Alec wollte Hals über Kopf aus diesem seltsamen, exotischen Haus und vor dem Anblick seines Freundes flüchten, der nun so abwesend einen goldgelockten Kopf streichelte wie wenige Stunden zuvor die Katze.
Der neue Alec hingegen, Alec von Rhíminee, dessen Neugier allmählich wieder erwachte, harrte aus, gefesselt von der eleganten Dekadenz des Ortes. Seregil hatte ihn noch nicht bemerkt; seinen Freund an einem solchen Ort in einer solchen Stellung zu betrachten, vermittelte Alec das Gefühl, heimlich einen völlig Fremden zu beobachten.
Seregils eigenartige, männliche Schönheit, die ihm zunächst entgangen, später selbstverständlich geworden war, als die Vertrautheit zwischen ihnen im Laufe der Monate ihres Zusammenlebens wuchs, schien ihm nun vor dem nebensächlich gewordenen Hintergrund der Menge förmlich anzuspringen: die großen, grauen Augen unter den ausdrucksstarken Brauen, die fein geschnittenen Züge, der so oft zu einem bissigen Grinsen verzogene, jetzt aber sinnlich entspannte Mund. Während Alec ihn beobachtete, legte Seregil den Kopf zurück, so daß sein Oberkleid aufglitt und den glatten Hals, die schlanke Brust und den flachen Bauch entblößte. Zugleich gefesselt und verwirrt, spürte Alec, wie sich zögerlich erste Gefühle regten, die er keinesfalls mit seinem Freund und Lehrer in Verbindung bringen wollte.
Azarin, der nach wie vor an seiner Seite stand, zog aus Alecs geblendeter Miene falsche Schlüsse. »Verzeih meine Unverfrorenheit, aber mangelt es dir womöglich an Erfahrung in derlei Dingen?« fragte er. »Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Die Nacht hat viele Stunden,
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