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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Maskottchen, Hanna, eine abgegriffene Handpuppe, mit der es die wirklich wichtigen Dinge des Lebens unter vier Augen besprach.
    Und es gab wirklich wichtigere Dinge als langweilige Kirchenbesichtigungen mit den Eltern. Voller Neid schaute das Mädchen heimlich zu, wie die Straßenjungen Fußball kickten. Aber das hätte es durchaus ganz offen tun können. Das Kicken gehörte für die Jungen eben ihrerseits zu den wichtigen Dingen des Lebens. Die hätten das kleine Mädchen gar nicht bemerkt. Beide Parteien waren noch zu jung, um zu wissen, dass es in dieser Beziehung ebenfalls wichtige Dinge gab.
    Als es an der Musikhochschule vorbeikam, drang eine wunderschöne Frauenstimme durch eines der oberen kleinen Fenster.
    »Ob ich später auch mal so schön singen kann?«
    Da die Handpuppe darauf keine Antwort wusste, wendete sich das Mädchen ab und wechselte die Straßenseite.
    »Das Marionettenmuseum!«
    Heute schaute sich die Kleine das Schaufenster endlich einmal ganz in Ruhe an. Wenn sie sonst in dieser Gegend war, zerrte ihre Mutter sie immer hastig fort. Die hatte bestimmt Angst, ihre Tochter könnte auf die Idee kommen, sich eines dieser unnützen Dinge zum Geburtstag zu wünschen.
    An der Eintrittskasse saß gelangweilt eine etwas ältere Frau. Ein kleines Hinweisschild an ihrer Bluse machte die Besucher darauf aufmerksam, dass sie gehörlos war. Deshalb lagen stets ein Heft und ein Bleistift in Reichweite. Das Mädchen mit den Mandelaugen presste seine Nase an die Schaufensterscheibe. Herrlich, was es da drinnen alles zu sehen gab:
    Hinter der Scheibe hingen der junge Mozart und die Gräfin Laura, zeitgemäß gekleidete Holzfiguren aus einem Marionettensingspiel.
    »Ich werde Hanna auch so schön kleiden!«, nahm sich das Mädchen vor.
    In seiner Fantasie begannen die beiden hölzernen Figuren, anmutig ein langsames Menuett zu tanzen.
    Links in der Schaufenstervitrine schwebte ein grotesker Stelzentrompeter, der nur mit einer lächerlich plumpen Hose und einem knappen Varietéjäckchen bekleidet war. Er blies seiner angebeteten Salome, die in der rechten Ecke neben einer Schüssel mit dem Kopf des Jochanaan stand, ein ohrenzerreißendes Ständchen. Musik von Richard Strauss wird das wohl nicht gewesen sein. Höchstens als Parodie.
    Auch wenn die Salome aufregend orientalisch gekleidet war, so jagte die Szene wegen des schrecklichen Kopfes dem kleinen Mädchen gehörig Furcht ein. Der abgetrennte Schädel richtete sich auf, blickte das Mädchen Hilfe suchend an und stieß erbarmungswürdige Schmerzensschreie aus.
    Die kindliche Vorstellungskraft ließ alles lebendig werden. Weiter hinten im Halbdunkel der Räume erkannte man die Umrisse von vielen anderen Gestalten, manche davon in Lebensgröße. Waren das auch Marionetten? Oder vielleicht Besucher?
    Bei Mädchen in diesem Alter überwiegt die Neugier vor der Furcht. Und so drückte es sich vorsichtig an dem Kassenhäuschen vorbei. Die Gehörlose war viel zu sehr in ihren Groschenroman vertieft, als dass sie etwas bemerkt hätte. Heute hatte sowieso noch niemand Eintrittskarten gelöst.
    Ein bizarres Halbdunkel voller teilweise geschickt angeleuchteter Puppen und Marionetten empfing das Kind. Da es allein war, fühlte es sich sofort tief in den Bann dieser Scheinwelt gezogen.
    Gleich neben dem Eingang stand ein englischer Clown in einem gelb-blauen Zirkuskostüm. Das traurig-freundliche Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen gefiel der Kleinen. Nachdem sie sich vergewisserte, dass die Kassiererin außer Reichweite war, zog sie zaghaft an einem der Fäden. Der Unterkiefer bewegte sich. Es war, als wollte der Clown das kleine Mädchen warnen, weiterzugehen.
    Das hatte aber schon längst Moto Rafael, den elektrischen Zeichner, gesehen, eine Bauchrednerpuppe, die es an seinen Vater erinnerte. Hier konnte es den Schnurrbart und das Bärtchen nach Belieben bewegen. Was es bei ihrem Papa nie durfte.
    Und dann da hinten in einer Nische der Cakewalk-Tänzer Johnson, der, als er die kleine Besucherin kommen sah, einen akrobatischen Jitterbug aufführte.
    Im Nebenraum tummelte sich ein lustiger Kugelläufer. Und die Hexe auf dem Zauberbesen durfte natürlich auch nicht fehlen. Die Mandelaugen des Mädchens wurden immer größer.
    Im hintersten Eck des letzten Raumes thronte der Schulreiter Hansi auf seiner Rosinante. Seinen Hals und Teile des Pferdes konnte ein Marionettenspieler mittels langer Fäden und sinnreich angeordneter Holzkreuze bewegen. Sicherlich erforderte

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