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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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von dem peinlichen Vorfall mit dem Operndirektor. Sie widmete sich wieder mit aller Energie ihren Gesangsübungen. Daher entging ihr die kurze Nachricht über dessen Unfalltod, die am nächsten Tag in der Zeitung stand. Kroll wollte das aus ermittlungstechnischen Gründen noch nicht als Mord deklarieren.
    Der Laborbericht über den mysteriösen Zettel besagte, dass es sich um den gleichen Drucker und das gleiche Papier handelte, wie in dem Fall des toten Küsters. Diesmal jedoch entdeckten die Fachleute ein winziges Haar, dass zweifellos von einer Perücke stammte. Kanekalon, ein verbreitetes Material für Kunsthaar. Gelockt, Farbe dunkelbraun.

     

Kapitel 10: Im Ratsweinkeller

    »Ruhe, meine Herren! Ruhe, bitte!«
    Der Ratsvorsteher, der seinen Platz an der Stirnseite der großen Ratsweinkellertafel einnahm, stand auf und läutete die Handglocke. Langsam beruhigte sich die Ratsherrenversammlung.
    »Kommen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt. Die Zeitumstellung bei der Astronomischen Uhr in der Marienkirche. Wie mir der Senator für Tourismus berichtete, haben sich viele Besucher darüber beschwert, dass es dort keine Umstellung von Sommer- auf Winterzeit gibt.«
    Um nachzudenken, wie er fortfahren sollte, legte er eine Kunstpause ein, indem er mit einer großen Geste – das konnte er als Politiker überzeugend – sein rot-weiß kariertes, riesiges Leinentaschentuch aus der Hosentasche zog, sich bedeutungsschwer schnäuzte und den Blick durch den Saal schweifen ließ.
    Der Ratsweinkeller bestand im Wesentlichen aus verwinkelten spätromanischen Gewölbebögen. Gelegentlich waren die Räume durch Mauern abgetrennt. Überall blätterte die Wandfarbe ab, und es hatten sich hier und da Salpetersäureblasen gebildet. An den Mauern hingen dicht an dicht die Porträts ehemaliger Ratsvorsteher und bedeutender Ratsherren in Öl.
    In einigen Nischen standen Glasvitrinen, die mit gespenstisch angestrahlten Figuren und Masken gefüllt waren, Leihgaben aus der Völkerkundesammlung der Stadt. Die mit Erdfarbe, Kalk und Holzkohleruß bemalte Giebelmaske erschreckte den Betrachter. Eine Ahnenfigur aus Holz, Metall und Federn stand nackt und verloren in einem grellen Lichtkegel. Alpenländische Fastnachtsmasken wechselten sich mit afrikanischen Schamanenmasken und Ritualmasken aus der Südsee ab. Hin und wieder konnte man die Masken leicht mit den Charakterköpfen einiger Anwesender verwechseln. Filmfans wie Ria hätten glauben können, hier würde ein Fritz-Lang-Film gedreht.
    Der Ratsvorsteher hielt es an der Zeit, seine programmatische Rede fortzusetzen.
    »Nun ja, wie Sie wissen, ist uns die Zeit ein heiliges Thema. Schon unsere Vorfahren hielten an dem Grundsatz fest: ›Des Menschen Engel ist die Zeit.‹«
    Er wusste nicht, dass dieser Satz von Schiller stammte.
    »Als seinerzeit einer meiner Vorväter – ebenfalls ein allseits geachteter Ratsvorsteher – «, er zeigte bedeutsam auf eines der Ölbilder an der Wand, »mit stolzem Nationalbewusstsein erklärte, er würde lieber sterben, als sich …«
    »Zur Sache, Herr Ratsvorsteher! Wir haben heute noch mehr zu besprechen.« Die Frau Ratskämmerin hielt offensichtlich nichts von Zeitverschwendung.
    »Immer mit der Ruhe, liebe Kollegin! – Also, wie gesagt, es steht zur Debatte, ob wir mit der Zeit gehen sollen …«
    Ihm fiel auf, dass diese Redewendung wenig passte, und er schnupfte sich, um davon abzulenken, erneut in sein Tuch. Die qualmige, muffige und bierdunstgetränkte Luft im Ratsweinkeller griff seine Bronchien an. Jetzt versuchte er es im volkstümlichen Ton.
    »Ich meine, sollen wir den neumodischen Kram mit der Zeitdreherei mitmachen oder nicht?«
    Schwer lastete die Schicksalsfrage auf den Köpfen der Anwesenden. Endlich kam man auf den Punkt und leerte den vor sich stehenden Bierhumpen in einem Zug. Durch diesen Schluck mutig geworden, stand der Pastor auf und fing an zu predigen: »Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.«
    Weil er keine eigene Meinung hatte, bediente er sich gern kluger Sätze anderer. Nur dass er meistens nicht mehr wusste, von wem sie stammten. In diesem Fall handelte es sich um Dante Alighieri.
    »Gott hat uns die Zeit geschenkt, und es ist nicht an uns, in sein heilig Werk einzugreifen. Solange es Gott gibt, gibt es die Zeit. Zeit ist der Atem Gottes. Sie ist absolut, unantastbar, bis in die Ewigkeit.«
    »Amen«, murmelten einige Anwesende, die das von ihrem Kirchgang her gewohnt waren.
    Das brachte den Bausenator,

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