Schattengold
einen pensionierten Philosophielehrer der Oberschule und Ehrenbürger von Lübeck, auf den Plan. Man achtete ihn sehr in dieser Runde, weil die meisten Ratsherren früher einmal seine Schüler gewesen sind.
»Die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, allen voran die der Relativitätstheorie, beweisen, dass es keine absolute Zeit geben kann. Zeit ist nicht unendlich, Zeit hat einen Anfang und ein Ende. Man könnte sogar sagen: Zeit wurde geboren und Zeit wird sterben.«
Der Pastor vergaß, seinen Mund zu schließen. Ketzerei! Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit im Ehrenrat des Stadtrats zu beantragen, dass so einer nicht länger Ehrenbürger der Stadt sein dürfe.
»Mehr noch! Aus Sicht der Relativitätstheorie sieht es so aus, als hätte jeder von uns sein eigenes Zeitmaß, seine eigene Uhr. Und diese Uhren stimmen nicht überein. – Nehmen wir jemanden, der im obersten Stockwerk eines Hochhauses lebt. Für ihn geht die Uhr schneller als für den Nachbarn parterre. Er altert schneller, weil das auch für seine biologische Uhr gilt. Oder ein anderes Beispiel: Der, der sich schneller bewegt, dessen Uhr läuft langsamer. Er altert also auch langsamer.«
Die mitteljunge Sekretärin mit Bubikopffrisur, die gleich neben dem Ratsvorsteher saß, um die Sitzung mitzustenografieren, beschloss, bei nächster Gelegenheit umzuziehen. ›Nach parterre‹.« Jetzt lebte sie im 13. Stock eines Vorstadthochhauses. Sie hatte von dort aus zwar einen schönen Blick auf die Altstadtkulisse von Lübeck, aber wenn man ans Altern dachte, mussten eben Opfer gebracht werden. Außerdem wollte sie sich ein schnelles Auto zulegen. Dann würde sie der Weg zur Arbeit jünger machen, als wenn sie wie bisher Rad fuhr.
Leider unterbrach sie der Fraktionsführer der Opposition bei ihrer Zukunftsplanung.
»Antrag zur Geschäftsordnung!«
Als langjähriger Oppositioneller wusste er, wie man eine Ratsdebatte zu seinen Gunsten lenken konnte.
»In der Frage der Uhrenumstellung sind hier neue Gesichtspunkte zutage getreten. Unsere Bürger haben ein Recht darauf, dass wir solche wichtigen Entscheidungen nur dann treffen, wenn wir umfassend informiert sind. Ich schlage daher vor, die Diskussion zu beenden und eine Kultursonderkommission zu bilden, die sich eingehend mit der Problematik beschäftigt. – Um uns dann ein Fachgutachten erstellen zu lassen. Ich selbst wäre bereit, den Vorsitz dieser Kommission zu übernehmen.«
Das war die längste Rede der heutigen Sitzung. Der Sekretärin taten schon die Finger weh. Außerdem freute sie sich auf den Umzug.
Die Kommission bildete sich rasch. Viele Ratsmitglieder trugen sich ein. Kommissionen sind nämlich etwas Schönes: Man erhält Zusatzzahlungen und kann sich auf Kosten der Stadtkasse während der Sitzungen verpflegen lassen.
Zufrieden stellte der Ratsvorsteher fest, dass dieser Tagesordnungspunkt glücklich abgehandelt war. Insgeheim freute er sich, dass es eine funktionstüchtige Opposition gab.
Das nächste Thema der heutigen Sitzung würde sicherlich weniger Anstrengung kosten.
»Kommen wir zum Punkt zwo: die innere Sicherheit. Hierzu begrüßen wir unseren Referenten, Herrn Kriminalassistenten Hopfinger. – Bitte sehr, Herr Kriminalrat.«
Inspektor Kroll hatte die Berichterstattung seinem Assistenten übertragen. Er fühlte sich im Kreis der hohen Herren unwohl, und außerdem war Hopfinger mit dem Bürgermeister verwandt, was er als ideale Voraussetzung für den Job hielt. Der junge Assistent, der schon gehofft hatte, angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr bemüht zu werden, erhob sich von seinem Platz ganz hinten neben der Tür und ging festen Schrittes nach vorn zum Rednerpult.
Die Dienstpistole, die er hier eigentlich nicht brauchte, verformte ein wenig sein Jackett. Aber die verräterische Beule, die jeder Liebhaber von Kriminalfilmen kannte, gab ihm mehr Sicherheit und hoffentlich auch Respekt, dachte er.
»Sehr verehrter Herr Ratsvorsteher, hochverehrte Ratsmitglieder. Lieber Herr Pastor.«
Bedeutungsvolle Pause. Ein prüfender Blick in die Runde, ob auch alle aufpassten.
Im Unterschied zu seinem Vorredner zog er kein Taschentuch, sondern ein paar Merkzettel aus seiner Hosentasche.
»Wie Ihnen aus meinem Dossier, das ich an Ihre Dienststellen habe verteilen lassen, bekannt ist, hat sich in den letzten Jahren die Sicherheitslage in unserer Stadt deutlich verschlechtert. Um ein paar Zahlen zu nennen …«
Der Ratsvorsteher unterbrach ihn.
»Das
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