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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Möglichkeit gab, allein zu sein.
    Hier, abseits des geschäftigen Stadtlebens, fand er das, wonach er sich sehnte: Ruhe und Gelassenheit, Besinnung und Träume, inneren Frieden und das Einssein mit der Natur. Hier brauchte er keine Uhr. Segeln gab ihm das Gefühl, den Lauf der Zeit aufhalten zu können, Zeit für sich selbst zu gewinnen. – Aber wofür?
    Die Anwesenheit von Aina machte ihm schlagartig klar, dass er bisher Einsamkeit mit Geborgenheit verwechselt hatte.
    Der Stand der Sonne zeigte ihm, dass der Nachmittag sich dem Ende zuneigte. Der Wind ließ nach, und jetzt glitt das Boot sanft durch das inzwischen fast glatte, aber immer noch dunkelblaue Wasser.
    »Wir sind vom Hafen weit abgekommen. Der Wind wird bald einschlafen, und ich glaube kaum, dass wir die Rückfahrt noch vor Nachtanbruch schaffen.«
    Das dem Ausgangspunkt gegenüberliegende, steinige Ufer der weiträumigen Meeresbucht lag zum Greifen nah. Es war menschenleer. Hier gab es keine Ferienbungalows und keine Strandkörbe.
    Nur eine Schar Möwen saß kreischend auf den Felsbrocken, die von einem Steilhang hinunter ins seichte Uferwasser gerollt waren.
    »Dann übernachten wir eben hier«, schlug Aina vor. »Meine Eltern werden sich denken, ich verbringe die Nacht bei einer Kommilitonin. Das sind sie gewohnt. – Wie ist das bei dir?«
    »Mein Vater lebt nicht mehr. Und meine Mutter weiß, dass ich gern auf dem Boot übernachte. Ich habe eigentlich immer alles Notwendige an Bord. – Das heißt, natürlich nicht zwei Schlafsäcke und zwei Decken …«
    »Das kriegen wir schon hin, ich bin in dieser Beziehung wenig anspruchsvoll.«
    Langsam bildeten sich am Horizont leichte Wolkenschleier. Aber die Sonne spendete noch reichlich Wärme.
    »Da drüben können wir ankern. Halt du die Pinne und achte auf meine Anweisungen. Ich gehe nach vorn und bereite den Anker vor.«
    Die Segel waren schnell geborgen, der Anker fasste Grund.
    Fast völlige Ruhe herrschte. Die Möwen waren bei der Annäherung des Bootes in einem weiten Bogen Richtung Sonne geflüchtet. Das Boot dümpelte sanft bei jeder Bewegung seiner Insassen.
    Raik kontrollierte die Ankerkette. Aina lehnte am Mast und schaute träumend zum Strand. Ihr war, als entdeckte sie eine neue Welt.
    Plötzlich kam ihr eine Idee.
    »Lass uns ans Ufer schwimmen!«
    Und ehe sich Raik versah – als guter Segler wollte er das Boot nicht sich selbst überlassen – streifte sie sich ihre Kleidung ab und sprang, nur noch mit ihrer Unterwäsche bekleidet, ins Wasser.
    Mit wenigen kräftigen Stößen gelangte sie in flaches Wasser und watete triefend an Land.
    »Komm her, es ist überhaupt nicht kalt!«
    Raik blieb nicht anderes übrig, als sich seiner Kleidung bis auf die Unterhose zu entledigen und ihr nachzuspringen.
    Am Ufer saßen sie lange Zeit schweigend nebeneinander auf den Felsbrocken. Aina hatte ihr nasses Haar provisorisch zusammengebunden. Infolge dieser Bewegung fiel Raiks Blick zufällig auf das Muttermal an der Innenseite ihres linken Oberarms.
    Er sagte nichts, aber sie spürte, dass er es gesehen hatte.
    Komisch, jetzt machte ihr das nichts mehr aus.
    Nach einer Weile fragte er: »Neulich hattest du einen roten Punkt auf der Stirn. Das gefiel mir. Trägst du ihn nicht immer?«
    »Nein«, antwortete sie. »Er hat keine religiöse Bedeutung. Ich schminke mich gern damit, wenn ich einen Auftritt habe. Das gibt mir Selbstsicherheit, wenn ich singe. Ich spüre ihn kaum, aber dennoch hilft er mir, mich auf die Musik zu konzentrieren. Ich kam auf die Idee während einer Gesangsstunde. Meine Lehrerin empfahl mir, ich solle mir vorstellen, die Töne strömen aus der Stirn heraus.« Sie lächelte, als sie Raiks skeptisches Gesicht bemerkte. »Das ist keine Spinnerei, sondern ein alter Trick in der Gesangspädagogik. Die Vorstellung hilft, Resonanzräume zu öffnen. – Der Punkt ist eine Art Talisman für mich und meine Musik.«
    Aina machte eine Pause. Sie lauschte dem feinen Plätschern der sanften Uferwellen. »Ach, was reden wir groß von mir. Erzähl mir lieber ein wenig von dir. Wie lebst du, und was ist mit deinen Eltern?«
    »Wir wohnen in einer kleinen Mansardenwohnung außerhalb der Stadt, gleich gegenüber dem Stadtgraben. Mein Vater kam bei einem Betriebsunfall tragisch ums Leben, als ich noch ganz jung war. Meine Mutter hat das bis heute nicht überwunden. Ich glaube, sie verlor damals ein wichtiges Stück ihres Lebens. Ich konnte ihr das nicht ersetzen. Sie ist sehr einsam geworden.
    Das

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