Schattengold
sich um einen speziellen Seemannsknoten handelte. Ungeschickt bastelte sie an dem Poller herum.
Inzwischen war der Mann hochgeklettert. Er ahnte, dass die junge Frau keine Ahnung hatte.
»Wohl Landratte, was?«
Er wollte ihr die Leine aus der Hand reißen, da erkannte er sie: »Bist du nicht die, die neulich bei uns in der Werkstatt zum Singen war?« Er kratzte sich verlegen an der Schulter. In seiner schüchternen Art versuchte er, seine Freude, sie wiederzusehen, zu verbergen.
Der wortkarge Uhrmachergeselle! – Na, inzwischen hat er ja wenigstens ein paar Worte dazugelernt, dachte sie.
»Gib mal her, ich zeig dir das.«
Aina fand seine Hilfe durchaus nicht unsympathisch. Zaghaft gestand sie: »Ich hab noch nie ein Segelboot betreten.«
»Dann wird es Zeit!«
Kurz entschlossen kletterte er in das Boot zurück und streckte ihr die Hand entgegen.
»Spring! – Ich halt dich.«
Das Boot schaukelte bedenklich, und der junge Mann musste sie gut festhalten, indem er sie um die Taille fasste.
Das fühlte sich nicht unangenehm an.
Auch er genoss die Berührung eine Sekunde lang. Dann aber lösten sich beide wieder, als gälte es, eine Peinlichkeit zu vermeiden.
»Segeln ist weder schwer noch gefährlich, man muss nur wissen, wie es funktioniert.«
»Würdest du es mir denn beibringen? – Aber kein Physikunterricht bitte! Damit nervt mich mein Vater genug.«
»Na klar.« Er reichte ihr die Hand. »Ich heiße Raik.«
»Aina.«
Mit einem geschickten Ablegemanöver brachte Raik sein Boot rasch aus dem Hafen. Ein strammer Am-Wind-Kurs trieb das sportliche Boot schnell voran.
Der Bug zerschnitt das Wasser, und es spritzte eine mächtige Schaumfontäne. Das Kielwasser hinter ihnen glänzte noch lange im Sonnenlicht.
Möwenrufe begleiteten die Fahrt.
Das Boot entwickelte seine eigenen Geräusche, seine eigene Musik. Die Majestät der Segel, die Grenzenlosigkeit des Himmels und des Wassers und das souveräne Gleiten durch die Wellen ließen den Alltag vergessen.
Bald lag die Uferlinie nur noch als undifferenzierbarer, dunkler Streifen in der Ferne. Menschen und Häuser konnte man nicht mehr unterscheiden.
›Endlich fern von allem, endlich kann ich ich selbst sein‹, sinnierte Aina und öffnete ihren Haarknoten.
Der Wind spielte mit ihren Haaren, als wären sie Engelsflügel.
In dieser Situation gefiel es ihr, dass Raik schweigsam war.
Sie lernte die Grundlagen des Segelns, ohne dass es vieler Worte bedurfte. Bald saß sie an der Pinne und steuerte das Boot, als ob sie das schon immer gemacht hätte.
Irgendwann fragte sie ihn: »Magst du auch die Musik?«
»Schon. Ich spiele ein wenig Cello – nichts Besonderes.« Das war allerdings völlig untertrieben. In Wirklichkeit spielte er ausgezeichnet. Bevor er seine Uhrmacherlehre anfing, hatte er jahrelang am Konservatorium Cello studiert und galt als gesuchter Begleiter bei Kammermusikabenden.
»Und welche Musik gefällt dir am besten?«
»Debussy, vor allem seine Klavierwerke. Oft, wenn ich in der Werkstatt sitze, höre ich die Hausherrin oben auf dem Flügel spielen. Dann lausche ich gern, und ich lass meine Arbeit einfach liegen.«
Für einen jungen Mann ein ungewöhnlicher Geschmack, meinte Aina und fragte: »Warum ausgerechnet Debussy?«
»Seine Musik erinnert mich ans Segeln. Wenn Frau Ampoinimera seine ›Voiles‹ spielt, ist es in meinen Ohren der Klang von Freiheit, von Ferne, von Sehnsucht. – Ich hab mal was gelesen von ihm:
›Man hört nicht auf die tausend Geräusche in der Natur um sich herum, man lauscht zu wenig auf die so vielfältige Musik, die uns die Natur überreich anbietet.
Sie umfängt uns, und wir haben bis jetzt in ihr gelebt, ohne ihrer gewahr zu werden.‹
Ich bin fest davon überzeugt, dass Debussy ein begeisterter Segler war, sonst hätte er so was nicht komponieren können.«
Das stimmte natürlich nicht.
Aina nahm sich vor, ihre Gesangslehrerin zu bitten, bei nächster Gelegenheit ein Hugo-Wolf-Lied mit ihr zu erarbeiten.
Raik hockte auf der hohen Kante und achtete auf den Segeltrimm, indem er mal eine Leine mithilfe der Winsch dichtholte, mal die Schot durch die Hand fierte.
Mit diesen Handgriffen sorgte er dafür, dass sich die Segel optimal zum Wind stellten und dadurch das Boot schnittig durch die Wellen rauschte. Er beobachtete Aina aus den Augenwinkeln heraus.
Eine Frau an Bord! Das hatte es in seinem jungen Leben noch nie gegeben. Eigentlich segelte er deswegen so gern, weil es ihm die
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