Schattengold
bürsten.
»Wie kann man seine Zeit anders füllen? – Mit Liebe. – Zeit ist Liebe. Sie ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu erhalten.«
Das Letztere hatte sie bei Brecht gelesen. Aber darauf kam es jetzt nicht an. »Zeit bedeutet für mich, in die Zukunft schauen zu können – von der Zukunft zu träumen, Sehnsucht nach etwas Neuem zu haben. Wer das nicht mehr kann, der lebt nur noch im Schatten der Zeit.«
Sie schwieg eine Weile. Raik legte seine Hände auf die ihren.
»Ich versuche das mit meiner Musik. Für mich ist sie die einzige Kunst, die es vermag, die unerbittliche Strenge der Zeit nachhaltig zu überwinden. Musik gibt der Zeit eine eigene, eine individuelle Gestalt. Sie wird zur Lebenszeit. Mit meinem Gesang möchte ich nicht nur meine Lebenszeit, sondern auch die meiner Zuhörer füllen. – Das kann man nicht in einfache Worte fassen.«
Leise stimmte sie das Lied an, das sie zur Aufnahmeprüfung gesungen hatte. Ohne Klavierbegleitung klang es noch intensiver.
»Aus dem Walde tritt die Nacht,
Aus den Bäumen schleicht sie leise,
Schaut sich um in weitem Kreise,
Nun gib acht.
Alle Lichter dieser Welt,
Alle Blumen, alle Farben
Löscht sie aus und stiehlt die Garben
Weg vom Feld.
Alles nimmt sie, was nur hold,
Nimmt das Silber weg des Stroms,
Nimmt vom Kupferdach des Doms
Weg das Gold.
Ausgeplündert steht der Strauch,
Rücke näher, Seel’ an Seele;
O die Nacht, mir bangt, sie stehle
Dich mir auch.«
Dann warteten beide still, bis der letzte Goldfunke der untergehenden Sonne im Meer verschwunden war.
»Wir müssen zum Boot zurück«, mahnte Raik.
Dort angekommen, krochen sie unters Kajütdach und hüllten sich in die Wolldecke.
Raik gab Aina einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel.
»Danke, dass du mir deine Zeit geschenkt hast.«
Statt einer Antwort zog sie ihn dicht zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich. Die aufgescheuchten Möwen kehrten bald wieder zurück. Sie spürten, dass von dem Boot, das sanft im Rhythmus der leichten Abenddünung schaukelte, keine Gefahr ausging.
Kapitel 13: Judith
Ainas Mutter konnte in dieser Nacht nicht ruhig schlafen. Im Dunkeln flüsterte sie ihrem Mann zu: »Wir müssen es ihr sagen. Ich fühle, die Zeit ist reif.«
Der Mann drehte sich wortlos um. Auch er fand keinen Schlaf.
Und als Raik am nächsten Abend zu Hause sein Cello hervorholte und eine melancholische Melodie anstimmte, ahnte seine Mutter, Judith Svavarson, dass sie ihren Sohn verlieren würde.
Sie weinte leise in ihr geblümtes Kopfkissen. Wie damals, als ihr Mann zu Grabe getragen wurde. Dabei war es ihr inzwischen längst klar geworden, dass ihre Ehe seinerzeit alles andere war, als die Erfüllung einer großen Liebe. Sie war noch jung und unerfahren, als sie ihn kennenlernte. Zunächst gefiel ihr die wortkarge und, wie sie meinte, männliche Art des Isländers. Eine zerbrechliche, unerfahrene junge Frau wie sie, so dachte sie, muss von einem starken Mann beschützt werden. Auch reizte sie das Fremde an ihm, das Geheimnisvolle, Unergründliche. Der Geruch nach der Weite des Meeres. Er war so ganz anders als die Jungen, die sie von der Schule her kannte.
Viel zu früh bekam sie ihr Kind. Das war ihr heute klar. Es entwickelte sich von Anfang an zum Ebenbild ihres Mannes. Sie verstanden sich gut; beide liebten das Segeln, die raue Natur, das Alleinsein. Judith fühlte sich immer mehr fehl am Platze. Ihren eigenen Interessen konnte sie kaum noch nachgehen.
Sie liebte die Künste. Vielleicht hatte sie ihre kreative Ader ihrem Sohn vererbt, schließlich wuchs er zu einem durchaus ernst zu nehmenden Cellisten auf.
Aber nicht die Musik, die Malerei war im Grunde genommen ihr Lieblingsgebiet. Sie besuchte gern Kunstausstellungen und versäumte keine Vernissage in den Galerien der Stadt. Doch all das musste sie während ihrer Ehe mehr oder weniger verheimlichen. Ihr Mann zeigte kein Verständnis für das ›unnütze Zeug‹, wie er sich auszudrücken pflegte. Heimlich fuhr sie, unter dem Vorwand, Einkaufen zu gehen, nach Hamburg, um sich eine Rubens-Ausstellung anzusehen. Die vollbusigen, lebensfrohen Frauen auf seinen Gemälden faszinierten sie. Sie waren so ganz anders als sie, sie genierten sich nicht ihrer Weiblichkeit. Sie schienen das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Monate später entdeckte sie in einem Kunstkalender Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero. Auch hier die prallen, selbstbewussten Frauen.
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