Schattengold
Merkwürdige ist nur, dass sie nach außen hin das genaue Gegenteil zeigt. Oft beobachte ich von meinem Zimmerfenster unterm Dach unseres Hauses aus, wie sie morgens scheinbar festen Schrittes über den Hof zu ihrem Auto läuft. Als ob sie ganz in Eile wäre. Dabei weiß ich, dass sie überhaupt nichts vorhat. Und am späten Nachmittag kommt sie dann zurück mit ein paar Einkaufstüten von irgendwelchen Modegeschäften in der Hand. Die sind aber leer, die hatte sie morgens in ihrer Handtasche versteckt.«
Er bemerkte nicht, dass Aina ihren Arm auf seine Schulter stützte und anfing, leise vor sich hinzusummen.
»Ich bin mir sicher, dass sie den ganzen Tag nur mit dem Auto durch die Gegend gefahren ist. Ich erkenn das am Tachostand. Manchmal fährt sie nach Travemünde, wo sie ein kleines Ferienhaus an Badegäste vermietet. Ab und zu muss sie da etwas regeln. Mich persönlich interessiert das nicht besonders. Das mondäne Travemünde ist nicht meine Welt. Und ich glaube, auch Mutter fühlt sich dort nicht besonders wohl – seit damals, als wir Vater verloren.«
Raik schwieg unvermittelt und schubste mit den Zehen ein paar kleine Kieselsteine ins Wasser. Als ob er sich dem Anflug trüber Gedanken erwehren wollte. Mit einem leichten Seufzer fuhr er fort.
»In unserer Straße tut sie, als sei sie eine viel beschäftigte Hausfrau. Aber das trügt. Sie belügt nicht nur mich und die Nachbarn, sie belügt sich selbst. Für sie ist dieser trügerische Schein offenbar der einzige Weg, um ihre Einsamkeit zu ertragen. – Und ich kann ihr dabei nicht einmal helfen.«
Eine so lange Rede hatte Raik noch nie gehalten. Er kam nicht umhin, sich über sich selbst zu wundern.
Dann lachte er bitter.
»Das Komische ist, dass, obwohl bei uns zu Hause so viele Uhren stehen, sie angeblich nie weiß, wie spät es ist. Dann fragt sie mich, als ob ich als Uhrmachergeselle dafür zuständig sei. – Ich glaube aber, da steckt was anderes dahinter. Wie viele andere Menschen auch weiß sie nicht, mit der Zeit umzugehen.
Das ist es: Sie nimmt die Uhrzeit als ihre Lebenszeit.«
Er hielt inne.
»Weißt du, wie mein Boot heißt?«
»Ja, ich erinnere mich, weil der Name meinem Vornamen ähnlich klingt: Aion. – Was bedeutet das?«
»Aion kommt aus dem Griechischen. Man kann es übersetzen mit ›Lebenszeit‹. Ich bin mal durch Zufall darauf gestoßen, und das Wort gefiel mir als Bootsname.
Viele Menschen achten sie nicht, ihre Lebenszeit. Wenn ich mit meinem Boot über das Wasser gleite, spüre ich sie. Das ist die Zeit, in der ich wirklich lebe. Außerhalb, bei meiner Arbeit oder zu Hause bei meiner Mutter, existiert nur eine tote Zeit, das mechanische Abspulen eines Räderwerks, nichts mehr. – Zeit, das ist Leben. Nur der Tod kennt keine Zeit.«
Aina hatte aufgehört zu summen. Sie zog ihren Arm von Raiks Schulter zurück. Nachdenklich beugte sie ihren Oberkörper nach vorn und umklammerte mit gefalteten Händen die angezogenen Knie, als wollte sie sich einigeln. Raiks Worte waren ihr unheimlich.
Es entstand eine lange Pause. Beide schienen in ihre Gedanken vertieft zu sein.
Dann stand Aina unvermittelt auf, stellte sich hinter Raik und legte ihre Hände auf seine Schulter, als solle er die Schwere ihrer Worte körperlich spüren.
»Nein, Raik, damit bin ich nicht einverstanden. Da ist noch mehr. – Leben ist nicht Leben. Es gibt so viele Arten zu leben, wie Sandkörner an diesem Strand liegen. Zum Beispiel diese vielen Segelboote, die ›Carpe Diem‹ heißen. Manche haben sie so getauft, weil sie glauben, Segeln sei Lust am Leben. Für andere ist es dagegen nur ein Zeitvertreib oder eine gesellschaftliche Verpflichtung.
Oder nehmen wir die Nachbarn meiner Eltern, bei denen dieser Spruch über dem Hauseingang hängt. Für sie ist er Sinnbild einer nur an materiellen Genüssen orientierten Lebenseinstellung. Der äußere Schein ist alles, und je teurer er ist, desto wertvoller erscheint ihnen das Leben. Das ist ihre Zeit. – Aber sie ist von innen her leer, und das macht sie einsam.
Für mich stellt sich die Frage: Wie füllt man seine Lebenszeit? Für die Leute in den Städten ist das klar: Zeit ist Handel, Zins, Profit. Für Kultur bleibt nur wenig Zeit.«
Die Sonne hatte sich inzwischen flach über den weiten Horizont gelegt und spiegelte sich im Wasser wie ein breites Feuerschwert.
Langsam näherte sich die Kälte der Nacht.
Aina begann, Raik das immer noch nasse Haar mit ihren Händen nach hinten zu
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