Schattengold
Judith kaufte sich ein Poster und hängte es in ihrem Arbeitszimmer auf.
Ihr Mann hatte nur Spott für die, wie er meinte, primitive Darstellung übrig. Er missverstand das Interesse seiner Frau für üppige Bilder und nahm sie sich an dem Abend mit brutaler Männlichkeit. – Seitdem kriselte es in ihrer Ehe.
Judith brauchte lange, um den Schock zu überwinden. Dennoch hielt sie zu ihrem Mann, allein aus Sorge um das gemeinsame Kind. Nach seinem plötzlichen Unfalltod sehnte sie sich dennoch nach ihm zurück, ohne sich dieses Widerspruchs bewusst zu werden.
Das lag nun viele Jahre zurück. Ihr Sohn wuchs zum Ebenbild ihres Mannes auf und ging seine eigenen Wege. Heute verließ sie wie gewohnt mit ihren in der Handtasche versteckten Einkaufsbeuteln das Haus. Sie wusste, dass Raik ihr immer heimlich aus dem Fenster nachschaute. Früher empfand sie das als lästig. Sie hatte das Gefühl, ihr Sohn würde sie überwachen, oder er würde nur abwarten, bis sie verschwunden war, um dann das Haus auf den Kopf stellen zu können.
Ein Gefühl stillen Glücks durchströmte sie, als sie bemerkte, wie sich der Vorhang in seinem Zimmer bewegte. Wie damals, als ihr Mann noch lebte. Es war beruhigend zu wissen, dass noch jemand anderes im Hause lebte.
Noch.
Eigentlich wollte sie wie so oft ziellos durchs Land fahren, in irgendeinem Dorfkrug einkehren und einen kleinen Spaziergang irgendwo am Strand machen. Doch als sie heute Morgen in der Zeitung die Nachricht entdeckte, dass im Völkerkundemuseum für ein paar Tage eine neue Ausstellung zu sehen war, beschloss sie, in die Stadt zu fahren.
Zwar schien noch kräftig die Sonne, über den Hausdächern der Weststadt zogen sich jedoch kompakte, dunkle Wolken zusammen. Das würde bestimmt Regen geben. Den Regenschirm hatte Judith leider zu Hause gelassen. So kam ihr der Museumsbesuch durchaus recht.
Die Völkerkundesammlung war im Alten Zeughaus untergebracht, in unmittelbarer Nähe zum Dom. Sie liebte diesen Bereich der Stadt. Als ihr Mann noch lebte, schlenderten sie gern durch das Domviertel.
Von der breiten, lebensprallen Nord-Süd-Achse der Stadt zweigte eine kleine Gasse mit dem Namen ›Fegefeuer‹ ab, und es ging vorbei an einem Gang namens ›Hölle‹ zum ehemaligen Domkirchhof. Die nördliche Vorhalle der im Jahre 1247 eingeweihten Backsteinkirche nannte man das ›Paradies‹. Der Weg einer Seele führte also zuerst durch das Fegefeuer, um von den Sünden gereinigt zu werden. Waren die Sünden zu schwer, kam die Seele in die Hölle, wurden sie für leicht befunden, durfte die Seele im Paradies aufgenommen werden.
Judith setzte sich auf eine der einsamen Bänke des Kirchhofs. Der kleine Park war menschenleer. Noch regnete es nicht. Also ließ sie sich Zeit, über sich und ihre Vergangenheit nachzudenken. Sie war sich sicher, dass die Seele ihres Mannes jetzt im Paradies ruhte. Ob ihr das auch vorbehalten war? Irgendwie spürte sie, dass sie sich in den letzten Jahren immer nur auf der Flucht vor sich selbst befunden hatte.
Ihr fehlte die innere Ruhe. Wenn jetzt auch noch Raik von ihr ginge, wo sollte sie dann hinfliehen? Wem müsste sie noch vortäuschen, dass ihr die Einsamkeit nichts ausmache, dass sie eine viel beschäftigte Hausfrau sei? Den Nachbarn? – Das lohnte sich nicht. Die lebten selbst nur in einer Scheinwelt eitler Selbstüberschätzung. Sie fing an, das zu durchschauen.
›Der Schein ist alles!‹ – Diese hohle Lebenseinstellung vieler Menschen ging ihr langsam auf die Nerven. Wozu dieses scheinheilige Theater mit den leeren Einkaufstüten, mit der ständigen Vortäuschung von Geschäftigkeit? – Die Ruhe des alten Kirchhofs und der Blick auf das Paradies halfen ihr, neuen Mut zu fassen, sich ihrer noch verbleibenden Lebenszeit ehrlich zu stellen. Vielleicht sollte ich einen Untermieter suchen, jemanden, mit dem ich etwas unternehmen könnte, grübelte sie. Raik wird nicht mehr lange im Haus bleiben. Er wird ein Mädchen gefunden haben, das ihm mehr bedeutet, als seine Mutter. – Wenn ich nur wüsste, wer sie ist!
Plötzlich fing es an, wie aus Kübeln zu regnen. Schnell rannte Judith die wenigen Schritte rüber zum Alten Zeughaus. Obwohl sie sich ihre Handtasche über den Kopf hielt, wurde sie pitschnass. Im schützenden Eingang des Gebäudes musste sie erst einmal stehen bleiben, um Luft zu schöpfen.
Sie blickte um sich.
Die Mauern waren lange nicht so alt wie die der Domkirche. Dafür machten sie einen trotzigeren, fast brutalen Eindruck
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