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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Musikraum der Oberschule. Das herrliche gotische Gewölbe wurde durch zwei Säulen getragen. An deren von der westlichen Eingangstür abgewandten Seite befanden sich alte Einritzungen und Lochbohrungen. Während im Mittelalter der Lektor von seinem Podest neben dem Eingang herunterdozierte, reagierten die Mönchsschüler ihre Langeweile und ihren Frust auf der vom Lehrer nicht einsehbaren Seite der Säule ab.
    Diese Tradition setzte sich über die Jahrhunderte fort. Weil sich die Lehrerposition inzwischen nach Süden verlagert hatte, prangten heute an der Nordseite der Säulen neue Hieroglyphen: AC/DC, LSD und ein von einem Herz eingefasstes Monogramm, ›J+A‹.
    An der Westseite des ehemaligen Refektoriums waren Reste einer Wandmalerei aus dem 15. Jahrhundert erhalten geblieben. Sie stellten die Verkündigung Mariens mit dem symbolischen Einhorn und die Marienkrönung dar.
    Sowohl die Mönchsschüler als auch die modernen Oberschüler interessierten sich wenig für die Symbolik. Auch die heutigen Zuhörer achteten nicht sonderlich auf die Historie des alten Baus und die Mariendarstellungen, ging es doch um die für sie viel spannendere Frage, ob in einem Schwarzen Loch die Zeit stirbt.
    Weder das Publikum noch der Referent ahnten, dass das Refektorium früher eigentlich größer gewesen und das Gewölbe von vier Säulen getragen worden war. Um mehr Klassenräume zu schaffen, hatte man den Raum bei der dritten Säule mit einer provisorischen Trennwand abgeteilt. Irgendjemand brach dann später einen kaum sichtbaren Durchlass in den oberen Teil der Wand. Dadurch war das alte Flüstergewölbe aus der Mönchszeit wiederhergestellt. Wenn jemand in dem einen Brennpunkt stand, konnte er genau hören, was jemand im anderen Teil des Gewölbes redete.
    Im Nachbarraum horchte regungslos im Dunkeln eine vermummte Gestalt.
    Im vorderen Brennpunkt stehend, begann der Dozent seinen Vortrag mit einer Belehrung: »Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.«
    Besserwisserischer Protest aus den Reihen der Zuhörer.
    »Nein, nein. Sie haben schon richtig gehört. So hat es der große Philosoph Seneca in seinem 106. Brief formuliert.« Der Philosophielehrer zeigte in die Runde. »Er meinte allerdings mit Schule nicht die öffentliche Bildungseinrichtung unserer Tage. Schule heißt hier: Schule der Philosophen. Erst später wurde der Satz von interessierter Seite verballhornt. Nebenbei bemerkt war der Herr Ballhorn als Drucker in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in unserer Stadt tätig. Inzwischen sind sich die Historiker ziemlich sicher, dass sein guter Ruf einer Intrige von zwei Juristen des Stadtrates zum Opfer fiel. Die, nicht er, sollen seinerzeit sinnentstellende Änderungen in einem unter seinem Namen veröffentlichten Druckwerk eingefügt haben. – Was lernen wir daraus? Traue niemals den Juristen!«
    Er lachte kurz und trocken auf. Ein zufällig anwesender Rechtspfleger fand das überhaupt nicht witzig.
    »Doch kehren wir zur Philosophie zurück. Wir können im Sinne Senecas sagen: Nicht für den Alltag, sondern für die höhere Philosophie lernen wir.«
    Womit er mitten im Thema war. Draußen dunkelte es.
    Nach einer knappen Stunde wollte der Referent gerade mit einer These aus der Theorie der Quantenfluktuation ansetzen, als plötzlich das Licht im ganzen Haus flimmerte und nach wenigen Zuckungen zusammenbrach.
    »Nicht gerade ein gutes Anschauungsbeispiel für die Philosophie der modernen Physik«, meinte der Dozent, um die peinliche Situation von der humorvollen Seite zu nehmen.
    Eine stockdunkle Finsternis hatte sich draußen ausgebreitet. Nur die nahe Kirchturmspitze wurde fahl vom Mond beleuchtet.
    Ohne Overheadprojektor konnte der Redner die schwere Materie nicht erläutern. Außerdem wurde es im Saal unruhig. Man munkelte über den katastrophalen Zustand in der Oberschule und im Erziehungswesen allgemein.
    Endlich sah man draußen den Hausmeister über den Hof hinken, mit einer Taschenlampe in der Hand. Deren Kegel zeigte infolge des ungleichmäßigen Gangs mit jedem zweiten Schritt nach oben und blendete die Menschen im Musikraum.
    Der Hausmeister trat ein, ließ den Scheinwerferstrahl über die Anwesenden gleiten und fingerte dann am Schalter herum. Er schimpfte: »Da haben wir es. Schon vor fünf Monaten habe ich dem Rektor gemeldet, dass der ganze Hauptschaltkasten marode ist. Aber nichts hat sich getan. Und jetzt haben wir den Salat.«
    Der Philosophielehrer fragte, obwohl jeder genau

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