Schattengold
auf sie. Wie eine starke Zitadelle stand der Gebäudekomplex vor dem Kirchenbau, als wolle er die Vorherrschaft der weltlichen vor der geistlichen Macht behaupten.
Und in der Tat hatten diese Mauern schon finstere Zeiten erlebt. Als im letzten Krieg mächtige braunschwarze Wolken über dem ganzen Lande hingen, dienten die kasernenartigen Räume einer menschenverachtenden Herrschaft. In den Kellern wurde gedemütigt, gefoltert und sogar gemordet, dass es dem Fron im mittelalterlichen Lübeck die Sprache verschlagen hätte.
Jetzt hatte die von weltoffenen Bürgern im Laufe der Zeit zusammengestellte Völkerkundesammlung ihre Heimat in den Räumen gefunden. Judith betrat seit dem Tode ihres Mannes heute das erste Mal wieder das Gebäude.
»Zeichen der Völkerverständigung, wo einst Völkerhass herrschte …«, hatte ihr Mann seinerzeit angemerkt, als sie bei der Eröffnung anwesend waren.
Die zweistöckige Ausstellung stand unter dem Motto ›Masken, Skulpturen und Kultfiguren aus Afrika‹. Ein Teil der Exponate, die kürzlich die Versammlung im Ratsweinkeller um einige skurrile Gesichter bereichert hatte, hatte heute wieder seinen angestammten Platz im Alten Zeughaus zurückerobert. Unter den Ausstellungsstücken befanden sich auch wertvolle Leihgaben aus dem Londoner British Museum.
Als erster Tagesgast war Judith mutterseelenallein. Die Kassiererin wunderte sich über den frühen Gast, rechnete sie sowieso nicht mit einem großen Publikumsandrang. Sie schwatzte mit der gelangweilten Wärterin über die wichtigen Dinge ihres Lebens.
Judith steuerte auf eine Vitrine zu, in der zwei Karyatiden – Skulpturen einer weiblichen Figur mit tragender Funktion – um die Gunst des Betrachters wetteiferten. Die eine stammte aus dem Kongo und fiel durch die Überbetonung des Kopfes und der Hände auf. Mit würdevollem Gesicht trug die Ruhe ausstrahlende Frau mit hängenden Brüsten die hölzerne Sitzfläche eines Schemels, als würde sie eine Obstschale auf dem Kopf balancieren. Die andere wurde in Dahomey, dem heutigen Benin, geschnitzt. Hier musste eine Frau mit hochgebundenen Brüsten eine schwere Schale auf ihrem Kopf halten. Die Muskelanspannung sah man ihr an. Dennoch bewältigte sie ihre Last lächelnd mit einer anmutigen Gelassenheit.
Raiks Mutter setzte sich auf einen der schlichten Stühle, die den Museumsbesucher zur beschaulichen Rast einluden. Eigentlich wollte sie sich nur ein wenig aufwärmen und trocknen, da der in seiner alternden Gebrechlichkeit unangenehm und unrhythmisch laut knackende Heizkörper hinter dem Sitz eine wohlige Wärme ausstrahlte.
Die Betrachtung der Figuren veranlasste sie wieder einmal, über ihr eigenes Los nachzudenken. Welchen Ballast hatte sie zu tragen? Wie konnte sie mit ihrer Bürde umgehen? Könnte es ihr, wie den beiden hölzernen Gestalten, ebenfalls gelingen, ihr Schicksal mit Würde und Harmonie anzunehmen?
Ihre Gedanken trieben wie Segel am Horizont in die Weite. Daher bemerkte sie nicht, dass ein junger, gut gekleideter Mann die Ausstellungsräume betreten hatte und vor einer Holzfigur aus Madagaskar, die gleich neben der Vitrine stand, regungslos und andächtig stehen blieb.
Plötzlich riss sie der schrille Klang einer Sirene aus ihren Träumen. Der Mann war der Figur zu nahe gekommen und hatte dadurch die Alarmanlage ausgelöst. Die Wächterin stürzte herein und schnauzte ihn an: »Verdammt, können Sie nicht lesen? Berühren verboten! Halten Sie gefälligst den notwendigen Sicherheitsabstand ein!«
»Oh, bitte entschuldigen Sie. Es tut mir leid, Sie gestört zu haben. Es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde mich in Zukunft zurückhalten.«
Mit einem missmutigen »Hm, man wird ja sehen!« dampfte die Frau zurück und stellte die Alarmglocken mithilfe eines Hebelschalters in einem neben der Tür befindlichen Kasten wieder ab. Der Fremde beobachtete genau ihre Handgriffe.
Er trat ein paar Schritte zurück und wandte sich an Frau Svavarson: »Das ist ein Totem aus dem Gebiet der Sakalava. Er stellt eine breitohrige und langmähnige Gottheit dar, die den Kopf eines Verstorbenen in den Händen hält und beschwörend die Hinterbliebenen mahnt, die heiligen Gesetze einzuhalten, ansonsten würde auch sie der Tod ereilen. Irgendein touristischer Andenkenjäger hatte sie von einem der hölzernen Friedhöfe entwendet, und auf Umwegen ist sie in die Sammlung des Völkerkundemuseums gelangt.«
Judith staunte über die Fachkenntnisse des Mannes, schließlich erwähnte der
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