Schattengott
Schams gefahren? Oder woandershin?»
«Im März war sie mal eine Woche daheim. Aber sonst war sie meistens
hier, hat gerne auf der Harfe gespielt in ihrer freien Zeit. Oder war spazieren.
In der Natur.»
Auf dem Schrank stand eine kleine Harfe. Auch Katharina Jakobs
musizierte gerne. Kannten sich die Frauen vielleicht?
«Fürs Erste reicht mir das an Informationen», sagte Sabina. «Ich
gehe davon aus, dass die anderen Leute im Ort nicht so gut Deutsch sprechen wie
Sie, oder?»
«Die meisten gar nicht», sagte der Wirt.
Sabina verabschiedete sich. Sie sah sich noch ein wenig in den
Gassen um und ging dann zurück zum Auto. In gemässigtem Tempo fuhr sie über die
verschneiten Kehren zurück zum Pass. Wer auch immer die Frau verschleppt hatte,
er war entweder über den gesperrten Pass gefahren oder hatte sich von der
italienischen Seite her genähert.
Sie hielt an, stieg aus und schaute nach Reifenspuren im Schnee.
Alles war verweht. In jedem Fall musste der Täter gewusst haben, dass er das
Mädchen hier oben finden würde. Musste nicht irgendjemand etwas gesehen haben?
Einen Menschen? Ein Auto? Irgendwas? Sie rief Freisler an und beauftragte ihn
damit, bis zum Wochenende die Bewohner von Isola nach Beobachtungen aus den
letzten Wochen zu befragen. Sie hatte noch einen gut bei ihm, fand sie. Und er
sprach viel besser Italienisch als sie.
Aus dem Auto informierte sie die Kollegen über die Inhalte der
Steintafel und bat Reto Beeli, sich für die Untersuchung bereitzuhalten. Auf
dem Polizeikommando angekommen, bereitete sie drei Flipcharts vor und schrieb
die Worte darauf, die zu den vermissten Frauen gehörten.
Katharina Jakobs
Iris Grenz
Maria Melchior
Stier
Stier
Stier
Blut
Blut
Blut
Bank
Esprit
Insel
Post
Wasserkirche
Schlucht
Russland
Auge
Gottesmutter
Himmelsleiter
Limes
König
Rabe
Bräutigam
Soldat
Kurz vor neunzehn Uhr waren alle da: Claudio Malfazi, Thomas
Heini und Urs Freisler. Sie bat Heini und Freisler vorzutragen, was es bisher
an Ermittlungsergebnissen gab.
Die Recherchen hatten ergeben, dass die vermissten Frauen mindestens
drei Gemeinsamkeiten hatten: Sie waren alle im Sternzeichen des Stiers geboren,
sie kamen aus dem Schams, und sie hatten einen Bezug zum Christentum. Sabina
strich die beiden Worte Stier und Blut auf den Flipcharts durch.
«Wir gehen davon aus, dass Blut etwas mit
dem Christentum zu tun hat. Alle drei Vermissten werden als gläubig
beschrieben, zudem sind zwei von ihnen an Ostern verschwunden. Und auch Stier ist eindeutig – es ist das Sternzeichen der
Frauen.»
Nach kurzer Diskussion strich sie zudem die Begriffe Bank (Kantonalbank Thusis), Post (Postbus/Post Zillis), Esprit (Boutique Thusis), Wasserkirche (Kirche Andeer) und Schlucht (Cardinello-Schlucht) durch. Blieb noch der Arbeitsort von
Maria Melchior bei der dritten Wörterserie.
«Insel ist die deutsche Übersetzung des Ortsnamens Isola», meldete
sich Malfazi zu Wort.
«Der Arbeitsort von Maria», ergänzte Sabina und strich den Begriff Insel durch.
Auf einem Extrachart definierte sie die übereinstimmenden, entschlüsselten
Inhalte der Wörterserien:
1.) Sternzeichen Stier
2.) Christentum
3.) Arbeitsort
4.) Ort des Verschwindens/zuletzt gesehen
«Da wir bei Frau Melchior mit Gottesmutter einen sehr deutlichen Hinweis auf den Namen Maria haben, können wir davon ausgehen,
dass auch die Namen der anderen Frauen in ihren Wörterserien auftauchen», sagte
Heini und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
Sabina strich das Wort Gottesmutter und
ergänzte auf dem anderen Flipchart: 5.) Name der
Vermissten .
«Nach diesem Schema müssen wir arbeiten und es auf alle drei
Wortserien anlegen. Welches Wort gibt uns noch einen Hinweis?»
Heini, Malfazi und Freisler sassen vor ihr wie drei Kandidaten in
einer Quizshow. Heini wagte sich als Erster vor.
«Das mit der Himmelsleiter ist Jakob»,
sagte er. «Diese Geschichte in der Bibel. Er träumt von einer Leiter in den
Himmel, Jakobs Leiter.»
«In der Surselva gibt es so eine Kirche, neben der eine
Himmelsleiter steht», sagte Malfazi. «Ich glaube, in Sumvitg.»
«Was könnte der Hinweis damit zu tun haben?», fragte Heini.
«Es geht um den Namen», rief Freisler, «Jakobs Leiter ist ein
Hinweis auf den Nachnamen der ersten Vermissten: Jakobs!»
Sabina strich, nachdem alle ihre Zustimmung gegeben hatten, das Wort Himmelsleiter durch und gleichzeitig eines ihrer
Vorurteile gegenüber Freisler.
«Dann stecken sicher bei allen drei Wortserien die Vor-
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