Schattengott
die
Fälle schnell klärten und niemand zu Schaden kam.
«Zweimal kann etwas Zufall sein», gab Malfazi endlich zu, «ab
dreimal hat es Methode.»
Der Splügenpass war offiziell noch geschlossen. Mit einem geländegängigen
Polizeiwagen fuhr Sabina die steilen Kehren hinauf. Ein paarmal drehten die
Räder durch, dank des Allradantriebs kam sie aber immer wieder voran. Als sie
die Passhöhe erreichte, blickte sie in eine fast unberührte Winterlandschaft.
Der Splügensee lag unter einer weissen Schneedecke.
Sie liess den Passort Montespluga hinter sich und fuhr am Stausee
vorbei nach Isola. Die Berge, die ringsum emporragten, waren allesamt noch tief
verschneit. In Isola sprach man bereits Italienisch, der Pass bildete Landes-
und Sprachgrenze zugleich. Sabina schlängelte sich durch die engen Gassen des
menschenleeren Dorfs und stellte das Fahrzeug vor dem Gasthof ab.
«Locanda Cardinello» stand auf einem Holzschild, das so alt wirkte
wie das ganze Haus. Der Inhaber begrüsste sie und erzählte stolz, wer in
früheren Jahrhunderten in dem Lokal abgestiegen sei: der grosse Goethe und auch
Nietzsche. Zu dieser Jahreszeit hatte die Locanda allerdings kaum Gäste. Die
Wintersaison war bereits vorüber, vom Sommer war noch nichts zu spüren.
«Was tun Sie in den Monaten bis zum Sommer?», fragte Sabina.
«Wir nutzen die Zeit, um zu renovieren», sagte er und führte sie
durch das verwinkelte Haus.
Sie sah sich das Zimmer an, in dem Maria Melchior wohnte. Es war ein
einfaches Dachzimmer mit einem Bett, einem Schrank und einem kleinen Fernseher
auf der Kommode, weder aufgeräumt noch besonders unordentlich. Insgesamt wirkte
es nicht so, als habe die Frau ihr Verschwinden geplant.
Als Nächstes begutachtete Sabina die Gaststube. Uraltes, fast
schwarzes Holz und schweres Mobiliar schufen tatsächlich eine Atmosphäre wie zu
Goethes Zeiten.
«Ich werde im Sommer auf jeden Fall mal zum Essen kommen», versprach
sie.
«Bringen Sie Hunger mit», sagte der Wirt, «unter fünf Gängen geht
bei uns nichts.»
Auf einem Tisch im hinteren Teil der Gaststube lag das Beweisstück,
eine grün-gräulich schimmernde Steintafel. Sabina zog ihre Handschuhe an.
«Oh, ich hab sie natürlich schon angefasst», entschuldigte sich der
Wirt.
«Schon recht», sagte Sabina. «Sie wussten ja nicht, dass es ein
Beweisstück wird.»
Auf der Steinplatte waren untereinander sieben Worte zu lesen.
Blut
Stier
Gottesmutter
König
Insel
Schlucht
Soldat
Auch dieses Mal fiel
wieder die kunstvolle Ausarbeitung auf. Hellgrau schraffierte Flächen im dunkleren
Stein, archaisch anmutend in ihrer Schlichtheit, dazu ein schmaler
quadratischer Rahmen um jeden Buchstaben. Keine Frage, es war wieder dieselbe
Schrift.
Das Wort Gottesmutter war für Sabina
eindeutig. Es musste ein Hinweis auf den Vornamen der vermissten Frau sein:
Maria.
Blut und Stier waren bereits bekannt. Soldat konnte auf die
französischen Soldaten hinweisen, die hier um 1800 auf dem Weg nach Italien
vorbeigezogen waren. Mit Schlucht konnte die raue
Cardinello-Schlucht gemeint sein, die man auf dem alten römischen Weg nach
Isola passierte. In der Nähe dieser Schlucht war die Frau verschwunden. Das
alles ergab mehr oder weniger Sinn und passte ins Gesamtbild. Sabina wollte
noch am Abend die Kollegen zusammentrommeln, um die drei Vermisstenfälle zu vergleichen
und neue Schlüsse zu ziehen. Sie packte die Tafel in eine Decke ein und ging
noch einmal ins Zimmer von Maria Melchior.
«Bitte finden Sie meine Maria wieder», sagte der Besitzer des
Gasthofs und erhob fast flehend die Hände. «Sie hat das ganze Haus auf
Vordermann gebracht in den letzten Wochen. So eine fleissige Schamserin. Und
ein gläubiges Mädchen.»
«Gläubig?»
«Ja, sie geht oft in die Kirche und singt.»
«Wissen Sie eigentlich, wann sie Geburtstag hat?», fragte Sabina.
«Im Mai irgendwann. Sie hat darum gebeten, an ihrem Geburtstag
freizuhaben.»
«Sagen Sie, hatte Maria einen Freund, einen Liebhaber, männlichen
Besuch?»
«Davon weiss ich nichts, hier war zumindest niemand.»
«Und wie ist es mit den Leuten hier im Ort. Hatte sie Kontakt? War
sie integriert? Spricht sie Italienisch?»
«Sie spricht besser Italienisch als ich Deutsch, ja. Sie ist beliebt
hier, ist ja auch ein hübsches Mädchen.»
«Und dass sie einem der Männer hier im Ort den Kopf verdreht hat?»
«Maria? Nein, nein. Die ist lieber für sich.»
«Wie oft war sie denn weg von hier in den letzten Monaten? Ist sie
oft ins
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